Schwarze Rose der Nacht

Er­schie­nen: 05/2010

Genre: His­to­ri­cal Ro­mance
Zu­sätz­lich: Do­mi­nanz & Un­ter­wer­fung

Lo­ca­ti­on: Lon­don

Sei­ten­an­zahl: 224 (Über­grö­ße)


Er­hält­lich als:
pa­per­back & ebook

ISBN:
Print: 978-3-93828-156-7
ebook: 978-3-86495-009-4

Preis:
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ebook: 6,99 €[D]

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Schwarze Rose der Nacht


In­halts­an­ga­be

Lon­don im Jahr 1880: Ein un­heim­li­cher Frau­en­mör­der ter­ro­ri­siert Whi­te­cha­pel, wo auch die in fi­nan­zi­el­le Not ge­ra­te­ne Vio­let lebt! Sie hält sich mit Kla­vier­stun­den über Was­ser und lebt bei ihrer Freun­din Rose, einer gut­si­tu­ier­ten Pro­sti­tu­ier­ten. Vio­lets Angst vor dem un­heim­li­chen Mör­der, von dem sie sich ver­folgt fühlt, lässt sie eine Stel­lung im Haus des eben­so mys­te­riö­sen wie wohl­ha­ben­den Ni­co­las Mar­low an­neh­men. In Ni­co­las' düs­ter-ver­win­kel­tem Haus fühlt Vio­let sich je­doch zu­neh­mend un­wohl - etwas Un­heim­li­ches geht hier vor! Doch ihre Geld­not und Ni­co­las' An­zie­hungs­kraft las­sen Vio­let in Ni­co­las' Haus blei­ben. Die un­er­fah­re­ne Vio­let ent­deckt ihre ei­ge­ne Sinn­lich­keit; sie ver­fällt Ni­co­las' aus­ge­fal­le­nem Lie­bes­spiel mit Haut und Haar! Doch tags­über ver­hält sich Ni­co­las Vio­let ge­gen­über kühl und ver­ächt­lich. Wohin ver­schwin­det Ni­co­las jede Nacht? In wel­cher Be­zie­hung steht er zu dem Frau­en­mör­der? Vio­let ahnt nicht, dass sie der Lock­vo­gel in einem mör­de­ri­schen Spiel ist ...

 

"Jack the Rip­per is back - ein­ge­bet­tet in eine Love-Sto­ry. Span­nend bis zum letz­ten Schnitt."

Tanya Car­pen­ter ("Toch­ter der Dun­kel­heit")

 

 

Hör­pro­be "Ero­tic Morning Lounge": [Schwar­ze Rose der Nacht - ge­le­sen von Rena Larf]

Über die Au­to­rin

Pa­tri­cia Amber ist eines der vie­len Pseud­ony­me der Spie­gel-Best­sel­ler-Au­to­rin Hilke Sell­nick. Die ge­bo­re­ne Nie­der­säch­sin stammt aus einer Schau-spiel­erfa­mi­lie, die ihre Krea­ti­vi­tät früh för­der­te. Seit et­li­chen Jah­ren lebt sie im hes­si­schen Id­stein, wo sie die Ideen für ihre Ge­schich­ten am bes­ten...

Wei­te­re Bü­cher der Au­to­rin

Le­se­pro­be

Szene 1

 

Mit­ten auf der Fleet­s­treet ge­riet die Menge ins Sto­cken und Vio­let wurde aus ihren Ge­dan­ken ge­ris­sen. Är­ger­li­che Rufe waren zu hören, Men­schen drän­gel­ten ge­gen­ein­an­der, Fäus­te wur­den ge­ho­ben, Stö­cke ge­schwun­gen. Dann mach­te die Nach­richt die Runde, ein Pferd sei ge­stürzt und der um­ge­kipp­te Wagen ver­bar­ri­ka­die­re den Durch­gang. Vio­let stand auf der Stel­le, ihr Bün­del fest an sich ge­presst und wehr­te sich da­ge­gen, im Ge­drän­ge gegen eine Haus­wand ge­drückt zu wer­den, denn das hätte ihren Man­tel rui­niert. Wert­vol­le Zeit ver­ging, ei­ni­ge Po­li­zis­ten scho­ben sich mit rüden Be­we­gun­gen durch die Menge, eine alte Frau, die mit...

...​einem Bauch­la­den un­ter­wegs war, wurde zu Boden ge­ris­sen und Vio­let griff rasch zu, um ihr wie­der auf die Füße zu hel­fen.

„Ver­gelt’s Gott, junge Lady“, krächz­te die Alte und ver­such­te sich den Schmutz aus dem zer­schlis­se­nen, brau­nen Rock zu wi­schen. „Es wird immer schlim­mer mit der Mensch­heit. Der Mör­der, der in Whi­te­cha­pel um­geht, soll sie alle ab­ste­chen. Sie haben’s nicht bes­ser ver­dient, diese gei­len Wei­ber, die sich für Geld ver­kau­fen.“

„Was reden Sie da?“, sagte Vio­let ent­setzt.

Ein in­ten­si­ver Bran­dy­duft schlug Vio­let ent­ge­gen, dass ihr fast schlecht wurde. Sie woll­te zu­rück­wei­chen, doch die Alte hatte ihre No­ten­ta­sche mit dür­ren, schmut­zi­gen Fin­gern um­krallt und hielt sich an ihr fest.

„Er wird wie­der zu­schla­gen, junge Lady. Noch in die­ser Nacht wird er sich sein Opfer holen.“

In den hel­len, fast durch­sich­ti­gen Augen der Alten spie­gel­te sich Irr­sinn, und Vio­let wich er­schro­cken zu­rück, als der lip­pen­lo­se Mund sie an­grins­te.

„Im Nebel auf dem Pflas­ter - schwarz und weiß und rot“, stieß die Alte her­vor und lach­te dann laut auf. Der Bran­dy­ge­stank hüll­te Vio­let ein wie eine dich­te Wolke, ein Ent­kom­men war un­mög­lich, denn sie waren zwi­schen den Men­schen ein­ge­klemmt.

„Schwarz das Haar, weiß die Haut und rot das Blut, das über das Pflas­ter läuft“, kräh­te die Alte mit hei­se­rer, sich über­schla­gen­der Stim­me, bis ein jun­ger Kerl mit einer Ma­tro­sen­müt­ze ihr einen Schubs gab, so­dass sie zur Seite tau­mel­te und Vio­lets Ta­sche fah­ren las­sen muss­te.

„Lass die Lady in Ruhe und halt dein be­sof­fe­nes Maul, alte Krähe!“

Vio­let nutz­te den Au­gen­blick, um sich zwi­schen den Men­schen hin­durch ein wenig wei­ter nach vorn zu schie­ben. Im dif­fu­sen Licht einer Stra­ßen­la­ter­ne konn­te sie er­ken­nen, wie ei­ni­ge Män­ner sich be­müh­ten, den ge­stürz­ten Wagen wie­der auf­zu­stel­len, wäh­rend der Kut­scher das auf­ge­reg­te Pferd am Half­ter hielt. Jetzt end­lich ge­riet die Menge wie­der in Fluss, die Po­li­zis­ten trie­ben die Gaf­fer bei­sei­te und sorg­ten dafür, dass sich der Stau auf­lös­te.

Vio­let eilte so rasch ihre Füße sie tru­gen voran und be­merk­te bald, dass ihre Ah­nung zur Wahr­heit ge­wor­den war. Nebel stie­gen auf, lie­ßen die Vor­über­ge­hen­den zu dunk­len Sil­hou­et­ten wer­den und bald waren sogar die Lich­ter an den Schau­fens­tern und die Stra­ßen­la­ter­nen nichts wei­ter als gelb­li­che Fle­cken im grau­en Dunst.

Sie hatte noch mehr als die halbe Stre­cke vor sich und sie be­reu­te jetzt ihre Ent­schei­dung, die süd­li­che Route ge­nom­men zu haben, denn nun würde sie über den Fried­hof von St. Paul gehen müs­sen.

Die Ge­räu­sche um sie herum wur­den dump­fer und lei­ser, schie­nen vom Nebel auf­ge­so­gen zu wer­den. Hier und da tauch­te eine Ge­stalt vor oder neben ihr auf, nur als dunk­ler Um­riss zu er­ken­nen und eben­so wie sie mit ei­li­gen Schrit­ten vor­an­stre­bend. Als sie den Fried­hof er­reich­te, konn­te sie den Weg unter ihren Füßen kaum sehen, spür­te nur das glit­schi­ge Laub, das hier reich­lich ver­streut lag und sie ver­such­te, so dicht wie mög­lich an der Mauer ent­lang zu lau­fen, um sich nicht im Nebel zwi­schen den Bäu­men und alten Grab­stei­nen zu ver­ir­ren. Schwei­gen des Todes umgab sie, nur ihr ei­ge­ner, über­lau­ter Herz­schlag schlug den Takt zu ihren Schrit­ten, und die düs­te­ren Stei­ne der Fried­hofs­mau­er wie­sen ihr den Weg. Als sie end­lich wie­der den schwa­chen Schein einer Stra­ßen­la­ter­ne er­blick­te, wäre sie vor Er­leich­te­rung fast dar­auf zu ge­rannt. Gelb­li­che Dunst­schwa­den be­weg­ten sich in ihrem mat­ten Licht wie schwe­ben­de, ein­an­der um­flie­ßen­de Geis­ter.

Jetzt ist es nicht mehr weit, dach­te sie. Nur noch die Can­non­s­treet ent­lang und dann links hoch in die King Wil­li­am­s­treet. Dann bin ich fast da. Meine Güte – Grace wird ganz si­cher Tee für uns beide ge­macht haben und schon un­ge­dul­dig auf mich war­ten.

Wie spät moch­te es sein? Ge­wiss schon fast zehn, der dumme Un­fall hatte sie eine gute Weile auf­ge­hal­ten. Sie schwor sich, nie­mals wie­der am Abend die­sen Weg zu lau­fen und eilte auf den Licht­schein zu. Dann, plötz­lich, ohne dass auch nur das kleins­te Ge­räusch sie ge­warnt hätte, spür­te sie, wie je­mand ihre Arme von hin­ten fass­te und sie fest­hielt.

Sie schrie gel­lend auf und ver­such­te, sich los­zu­rei­ßen, doch gleich dar­auf wand sich ein kräf­ti­ger Arm um ihre Tail­le und sie fühl­te einen klei­nen Stich im Rü­cken dicht unter dem lin­ken Schul­ter­blatt.

„Nein!“, keuch­te sie ver­zwei­felt und wand sich unter dem har­ten Griff. Es war zweck­los, der An­grei­fer war stär­ker als sie und hielt sie mit ei­ser­ner Kraft an sich ge­presst.

„Still“, flüs­ter­te eine Stim­me dicht an ihrem Ohr. „Wenn du dich be­wegst, dringt das Mes­ser dir ins Herz.“

Sie spür­te keine Panik, dazu war die Ge­fahr zu un­mit­tel­bar. Glas­klar lag die Er­kennt­nis vor ihr, dass sie ster­ben würde. Der Mann würde sie ent­we­der so­fort töten, oder sie zu­erst eine Weile quä­len, so wie er es mit den an­de­ren Frau­en getan hatte.

Ein in­ne­res Zit­tern be­fiel sie, wäh­rend sie jetzt un­be­weg­lich stand und dar­auf war­te­te, was er tun würde. Viel­leicht hatte sie ja noch eine Chan­ce, mit dem Leben davon zu kom­men. Viel­leicht würde er un­acht­sam sein, einen Feh­ler be­ge­hen. Viel­leicht kam je­mand vor­bei, der ihr hel­fen würde.

Das Mes­ser in ihrem Rü­cken ver­harr­te an Ort und Stel­le, drang nicht tie­fer ein, wurde aber auch nicht zu­rück­ge­nom­men. Seine Spit­ze hatte sich durch Man­tel, Kleid und Kor­sett ge­bohrt und ihre Haut ge­ritzt, ge­ra­de so tief, dass sie es spü­ren konn­te. Doch es be­durf­te nur eines klei­nen, fes­ten Sto­ßes um sie zu töten.

Sie konn­te den hei­ßen Atem des Man­nes in ihrem Na­cken spü­ren. Er at­me­te has­tig, sein Mund war so dicht an ihrem Hals, dass sie fast seine war­men Lip­pen zu füh­len glaub­te. Jetzt löste er den Griff um ihre Tail­le und seine Hand such­te die Haken, die ihren wei­ten Man­tel ver­schlos­sen. Sach­te, ohne sich zu be­ei­len, löste er einen Haken nach dem an­de­ren. Er tat es ge­schickt und mit Sorg­falt, als wolle er das Klei­dungs­stück auf kei­nen Fall be­schä­di­gen.

Als seine Hand unter den Man­tel fuhr und Vio­lets Kleid be­rühr­te, zuck­te sie zu­sam­men. So­gleich spür­te sie, wie das Mes­ser sich ein wenig tie­fer in ihre Haut schob und sie er­starr­te.

„Nicht be­we­gen – sonst dringt es dir ins Herz“, hauch­te er dicht an ihrem Na­cken.

Seine Lip­pen waren heiß und tro­cken und sein laut­lo­ses Flüs­tern hatte etwas von einem Men­schen, der sich in Tran­ce be­fin­det. Schau­dernd ließ Vio­let ge­sche­hen, dass seine Fin­ger mit den Knöp­fen ihres Klei­des spiel­ten, sie dreh­ten und zwir­bel­ten und end­lich über ihre Brust zu dem klei­nen Kra­gen wan­der­ten, um die Häk­chen zu öff­nen.

Ein leich­ter Wind bausch­te ihren wei­ten Man­tel und ließ die Enden flat­tern wie die schwe­ren Flü­gel eines Nacht­vo­gels. Ne­bel­schwa­den um­zo­gen sie, leg­ten sich mit feuch­ter Kühle auf ihre Haut, als der Mann jetzt das Ober­teil des Klei­des aus­ein­an­der­zog.

Tas­tend glit­ten seine Fin­ger über ihr ent­blöß­tes De­kol­leté, such­ten die klei­ne Senke ihrer Hals­gru­be und wan­der­ten lang­sam ihren Hals auf­wärts bis zum Kinn. Sie bog den Kopf zu­rück und fühl­te er­be­bend, wie seine Hand sach­te wie­der hin­ab­glitt, über ihren Kehl­kopf strich, einen Au­gen­blick dort ver­harr­te und sich dann wei­ter nach unten be­weg­te.

„Nein!“

„Still!“

Das Mes­ser stach tie­fer in ihren Rü­cken und es tat weh. Er hakte ihr Kor­sett unter dem Hemd auf, ar­bei­te­te rasch und si­cher, so als voll­führ­te er diese Be­we­gun­gen täg­lich, glitt mit einer lang­sa­men Be­we­gung über ihre bloße Haut und legte seine Hand für einen klei­nen Mo­ment unter ihre linke Brust.

Er at­me­te jetzt stoß­wei­se und so hef­tig, dass sie mein­te, er würde sie ver­bren­nen. Ihr Herz häm­mer­te und sie wuss­te, dass er es nur allzu deut­lich füh­len konn­te. Warum tat er das mit ihr? Warum dach­te er sich solch ver­rück­te Dinge aus? Oh Gott – was moch­te er noch alles mit ihr vor­ha­ben, bevor er ihr end­lich das Leben aus­lösch­te?

Plötz­lich war sie frei. Un­gläu­big stand sie im Nebel, spür­te ihren Pei­ni­ger nicht mehr, fühl­te nur die Kälte, die ihre bloße Haut be­rühr­te – doch das Mes­ser in ihrem Rü­cken war ver­schwun­den.

Sie wand­te sich um – doch die Dun­kel­heit hin­ter ihr war un­durch­dring­lich. War das ein hin­ter­häl­ti­ges Spiel, das er mit ihr trei­ben woll­te? Würde er Ver­gnü­gen dabei emp­fin­den, ihrer ver­zwei­fel­ten Flucht zu­zu­se­hen, um sie dann doch wie­der ein­zu­ho­len und end­gül­tig in seine Ge­walt zu brin­gen?

Zö­gernd ging sie ei­ni­ge Schrit­te – dann über­fiel sie eine wilde Panik und sie be­gann zu lau­fen. Sie raff­te ihre Röcke, rann­te mit of­fe­nem Kleid und flat­tern­dem Man­tel auf das gelb­li­che La­ter­nen­licht zu und hörte das Klap­pern ihrer Ab­sät­ze auf dem Stra­ßen­pflas­ter.

Es ist doch genau das, was er will, schalt sie sich. Bleib ste­hen, ver­su­che in der Dun­kel­heit un­ter­zu­tau­chen.

Doch die Angst war über­mäch­tig. Wie eine Be­ses­se­ne lief sie durch die dunk­le, dunst­ver­han­ge­ne Stra­ße, rang schon bald nach Luft und blieb den­noch nicht ste­hen, denn sie hielt das knat­tern­de Ge­räusch, das ihr flat­tern­der Man­tel er­zeug­te, für die Schrit­te ihres Ver­fol­gers.

Erst als ihre Kräf­te end­gül­tig zu schwin­den droh­ten und sie nur noch glei­ßen­de Fünk­chen vor den Augen sah, ver­lang­sam­te sie die Schrit­te und lehn­te sich schließ­lich voll­kom­men er­schöpft gegen die höl­zer­ne Wand eines Ge­bäu­des. Um sie herum dröhn­te das Häm­mern ihres ei­ge­nen Her­zens. Dann er­blick­te sie schwan­ken­de, dunk­le Ge­stal­ten vor sich im Nebel und hörte Stim­men, die ein wohl­be­kann­tes Lied gröl­ten.

„Oh my dar­ling Cle­men­ti­ne …“

Eine Grup­pe be­trun­ke­ner See­leu­te wank­te durch die Stra­ße, auf der Suche nach der nächs­ten Knei­pe. Es war nicht die beste Ge­sell­schaft, nor­ma­ler­wei­se wäre sie die­sen Leu­ten vor­sich­tig aus­ge­wi­chen, doch jetzt raff­te sie has­tig den Man­tel um sich und eilte auf die Män­ner zu, als seien diese eine ret­ten­de Insel.

„He Süße! Kommst ja aus dem Nebel wie ein Ge­spenst!“

La­chen­de Ge­sich­ter wand­ten sich ihr zu, sie at­me­te den Ge­ruch von Bran­dy und Bier ver­mischt mit stin­ken­dem Kau­ta­bak. Einer der Kerle um­fass­te ihre Tail­le und woll­te sie an sich zie­hen, ein an­de­rer stieß ihn bei­sei­te.

„He Mann! Das is‘ ‘ne feine Dame. Da musst du dich be­neh­men, du Wal­ross!“

„Die ist ja ganz blass, die Klei­ne. Hast wohl ’nen Geist im Nebel ge­se­hen, was?“

„Oder den Mör­der, der hin­ter den hüb­schen Dun­kel­haa­ri­gen her ist. Pass gut auf, Klei­ne. Bist genau sein Typ! Komm lie­ber mit uns, da hast du jede Menge Spaß.“

Sie nutz­te den Um­stand, dass die Bur­schen nicht mehr ganz stand­fest waren, und ent­wisch­te ihnen. Es war nicht mehr weit, sie hatte es fast ge­schafft. We­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter riss sie an dem Haus, in dem Grace wohn­te, fast die Glo­cke ab. Als das er­schro­cke­ne Mäd­chen öff­ne­te, stürz­te sie wie be­sin­nungs­los in den Flur.

Grace stand oben an der Trep­pe, auf­ge­putzt und ge­pu­dert, ihr ap­fel­grü­nes Samt­kleid schim­mer­te im Licht der Wand­lüs­ter. Sie sah er­schro­cken auf die voll­kom­men ver­stör­te Vio­let hin­un­ter.

„Vio­let - um Got­tes wil­len. Was ist ge­sche­hen? Wes­halb kommst du so spät? Wie siehst du nur aus?“

Vio­lett war nahe daran, in Trä­nen aus­zu­bre­chen, doch dann er­blick­te sie neben Grace einen selt­sa­men Men­schen, den sie hier noch nie zuvor ge­se­hen hatte und sie nahm sich un­will­kür­lich zu­sam­men.

Der Mann war hoch­ge­wach­sen und trug einen schwar­zen Geh­rock, dazu einen Hut mit schma­ler Krem­pe. Sein Ge­sicht wirk­te blass, die Nase scharf und in dem durch­drin­gen­den Blick, mit dem er sie mus­ter­te, lag un­ver­hoh­le­ne Spott­lust. Es war ohne Zwei­fel die­ser Aus­druck in sei­nen Zügen, der Vio­let ver­an­lass­te, ihre Ge­füh­le zu un­ter­drü­cken. Vor die­sem Men­schen würde sie ganz ge­wiss nicht wie eine hys­te­ri­sche Per­son an­fan­gen zu heu­len.

Der neue Kunde stieg ge­mäch­lich die Trep­pe nach unten, warf Grace einen kur­zen Ab­schieds­gruß zu und zog seine Hand­schu­he aus fei­nem, schwar­zem Leder an. Er ging schwei­gend an Vio­let vor­bei und ver­ließ das Haus, ohne sie wei­ter zu be­ach­ten.

 

 

Szene 2

 

Das Essen ver­lief aus­ge­spro­chen fröh­lich, was vor allem daran lag, dass Forch den Haupt­teil der Un­ter­hal­tung über­nahm. Den an­de­ren Teil be­stritt Vio­let, die sich in sei­ner Ge­sell­schaft un­be­fan­gen fühl­te und hei­ter da­hin­plau­der­te. Mar­low warf nur hin und wie­der einen Satz ein, saß je­doch die meis­te Zeit schwei­gend an sei­nem Platz, aß – wie ge­wohnt – sehr wenig, trank dafür je­doch meh­re­re Glä­ser Sher­ry. Sein Blick ruhte häu­fig auf Vio­let, die an die­sem Abend be­son­ders hübsch aus­sah, denn sie hatte das Haar auf neue Art auf­ge­steckt und die rote Farbe ihres neuen Ge­sell­schafts­klei­des warf einen war­men Schein auf ihre helle Haut. Sie war nicht nur eine auf­merk­sa­me Zu­hö­re­rin, sie ver­stand es auch, die rich­ti­gen Fra­gen zu stel­len, sie lach­te herz­lich und ging gut­mü­tig auf die Scher­ze des Gas­tes ein. Als sie spä­ter – unter Ein­wir­kung eines Gla­ses Rot­wein - von ihrer Be­geis­te­rung für die Musik des gro­ßen Beet­ho­ven sprach, glüh­te sie vor Auf­re­gung, und Forch sah sie lä­chelnd an.

„Wol­len wir Miss Burke bit­ten, ein wenig für uns zu spie­len, Ni­cho­las? Ich glau­be, sie würde mir damit eine große Freu­de ma­chen. Und dir ge­wiss auch.“

Vio­let sah mit zwei­feln­der Miene zu Mar­low hin­über, denn sie fürch­te­te, er werde ab­win­ken. Doch zu ihrer Über­ra­schung zuck­te er die Schul­tern, so als halte er den Vor­schlag zwar für reich­lich über­flüs­sig, wolle aber sei­nem Freund den Spaß nicht ver­der­ben.

„Dann ent­schul­di­gen Sie mich bitte für einen Mo­ment, Gen­tle­men. Ich gehe nur rasch auf mein Zim­mer hin­auf, um meine Noten zu holen.“

Wäh­rend sie die Trep­pen hin­auf lief, spür­te sie plötz­lich ein merk­wür­di­ges, völ­lig un­ge­recht­fer­tig­tes Glücks­emp­fin­den in ihrem In­ne­ren. War es die Wir­kung des Weins, den sie zum Essen ge­trun­ken hatte? Wäh­rend man mit­ein­an­der am Tisch saß und plau­der­te, hatte sie für ei­ni­ge Au­gen­bli­cke das Ge­fühl ge­habt, Mar­low sehe sie mit völ­lig an­de­ren Augen an.

Nimm dich in acht, sagte sie zu sich selbst. Bilde dir nur nicht ein, dass er etwa in dich ver­liebt wäre. Du bist nichts als sein Spiel­zeug.

Und wenn es ihr ge­län­ge, durch die Musik einen Weg zu ihm zu fin­den? Zu jenem Ni­cho­las Mar­low, der er frü­her ein­mal ge­we­sen war.

Sie such­te in ihrem No­ten­sta­pel und wähl­te schließ­lich ein Werk von Beet­ho­ven, das sie ganz be­son­ders lieb­te. Es war ein an­spruchs­vol­les Werk und sie würde an ihre tech­ni­schen Gren­zen ge­lan­gen, dazu kam, dass Mar­lows Kla­vier ihr neu und un­ge­wohnt sein würde. Doch kein an­de­res Mu­sik­stück hatte sie so sehr auf­ge­wühlt wie die­ses.

Sie ging lang­sam durch den Flur, das No­ten­heft an die Brust ge­presst, immer noch un­ent­schlos­sen, ob sie die­ses Wag­nis ein­ge­hen soll­te. Aber was hatte sie schon zu ver­lie­ren?

Von unten dran­gen Stim­men zu ihr hin­auf. Die bei­den Män­ner hat­ten sich in der Halle ein­ge­fun­den und in Er­war­tung des Kla­vier­vor­spiels auf den Rat­t­an­stüh­len Platz ge­nom­men.

„Ich weiß, dass es völ­lig ab­surd ist, Ni­cho­las. Den­noch soll­test du vor­sich­tig sein. Die ganze Stadt ist in Auf­ruhr und meine ehe­ma­li­gen Kol­le­gen bei der Po­li­zei ste­hen unter einem rie­si­gen Druck.“

„Was könn­te es euch nüt­zen, den Fal­schen zu ver­haf­ten? Der Mör­der von Whi­te­cha­pel wird wei­ter sein Un­we­sen trei­ben.“

„Es geht auch um deine Re­pu­ta­ti­on als An­walt. Al­lein der Ver­dacht – selbst wenn er sich als falsch er­weist – kann schon gro­ßen Scha­den an­rich­ten. Das weißt du selbst am bes­ten.“

„Was soll ich tun? Aus­wan­dern?“

„Du könn­test für eine Weile auf Rei­sen gehen. Quar­tie­re dich bei ir­gend­wel­chen Ver­wand­ten ein, die spä­ter be­zeu­gen kön­nen, dass du dich bei ihnen auf­ge­hal­ten hast.“

„Das ist doch ab­surd.“

„Eine Vor­sichts­maß­nah­me. Wei­ter nichts. Frü­her oder spä­ter wird er einen Feh­ler ma­chen und die Kol­le­gen krie­gen ihn. Meine Güte – bin ich froh, dass ich schon im letz­ten Jahr mei­nen Ab­schied vom Dienst ge­nom­men habe und mir diese böse Ge­schich­te er­spart ge­blie­ben ist.“

„Ja, du bist ein Glücks­pilz, Je­re­my!“

Vio­let hatte dem Ge­spräch un­gläu­big zu­ge­hört. Hatte sie recht ver­stan­den? Mar­low wurde ver­däch­tigt, der Mör­der von Whi­te­cha­pel zu sein? Aber das war doch voll­kom­men irr­sin­nig. Sie schüt­tel­te den Kopf und ging nun mit ent­schlos­se­nen Schrit­ten die Trep­pe hin­un­ter.

Forch saß mit an­ge­win­kel­ten Knien, die Hände vor dem Bauch ge­fal­tet und lä­chel­te Vio­let er­war­tungs­voll ent­ge­gen, Mar­low hatte die Beine weit aus­ge­steckt und den rech­ten Arm auf die Lehne des Stuhls ge­stützt. Er hatte sein Sher­ry­glas mit­ge­nom­men, es neben sich auf das Tisch­lein ge­stellt und nipp­te hin und wie­der davon. Seine Miene war un­be­weg­lich, die Augen halb ge­schlos­sen und zu Boden ge­rich­tet. Er sah aus wie ein Mensch, der eine un­an­ge­neh­me, aber lei­der un­ver­meid­ba­re An­ge­le­gen­heit über sich er­ge­hen las­sen muss.

Das Kla­vier hatte im Hin­ter­grund des Rau­mes an der Wand ge­stan­den, man hatte einen bun­ten Kelim dar­über ge­wor­fen, wes­we­gen Vio­let das In­stru­ment zwi­schen den üp­pi­gen Topf­pflan­zen nicht gleich ent­deck­te hatte. Nun hatte man Charles be­auf­tragt, das In­stru­ment in die Mitte des Rau­mes zu rol­len, und auch ein Kla­vier­ho­cker hatte sich an­ge­fun­den. Vio­let ge­noss den Mo­ment, als sie den De­ckel der Kla­via­tur anhob und schö­ne, mit El­fen­bein be­leg­te Tas­ten sicht­bar wur­den.

Pro­be­wei­se schlug sie ei­ni­ge Ton­fol­gen an und stell­te ent­zückt fest, dass das In­stru­ment einen her­vor­ra­gen­den Klang hatte und – ob­gleich es lange nicht ge­spielt wor­den war - die Stim­mung ge­hal­ten hatte. Ihr Herz klopf­te, doch ihre Fin­ger waren ruhig, wie immer, wenn sie Kla­vier­tas­ten unter sich spür­ten.

Der erste Ak­kord er­füll­te den Raum mit düs­te­rem, er­war­tungs­schwan­ge­rem Klang, ließ die Rea­li­tät ver­sin­ken und schuf eine fan­tas­ti­sche Welt der Emo­tio­nen. Vio­let spiel­te wie im Rausch, hörte die Töne und Rhyth­men in ihrem In­ne­ren noch bevor ihre Hände sie spiel­ten, gab sich der dunk­len, er­re­gen­den At­mo­sphä­re die­ser Klang­welt voll­kom­men hin, spann sich darin ein, spür­te sie am gan­zen Kör­per.

Nach dem ers­ten Satz hielt sie inne, lehn­te sich ein wenig zu­rück und ließ die Hände sin­ken, wäh­rend all ihre Sinne noch bei der Musik waren. Nie­mand sagte ein Wort, doch sie spür­te deut­lich die Span­nung im Raum und setz­te ihr Spiel un­auf­ge­for­dert fort. Als der letz­te Ak­kord ver­klun­gen war, blieb sie still vor dem In­stru­ment sit­zen, lausch­te den Tönen nach, dann schloss sie lang­sam das No­ten­heft und wand­te ihr Ge­sicht den Zu­hö­rern zu.

Forch muss­te eine Träne aus dem Au­gen­win­kel wi­schen, dann riss er die Hände hoch und klatsch­te Bei­fall. Drü­ben am Kü­chen­ein­gang fiel das Per­so­nal in den Ap­plaus ein, Charles schlug die Hände so hef­tig zu­sam­men, dass es einer Serie von Pis­to­len­schüs­sen glich und Mrs. Wa­ter­brook ent­fuhr der Satz:

„Der Him­mel steh mir bei – das war groß­ar­tig.“

Auch Maggy spen­de­te jetzt Ap­plaus – sie war auf einem Kü­chen­stuhl in sanf­ten Schlum­mer ge­fal­len und von dem Bei­fall ge­weckt wor­den.

Vio­let sah neu­gie­rig zu Mar­low hin­über, der die Augen ge­schlos­sen hielt. Als er ihren Blick spür­te, blin­zel­te er und wand­te das Ge­sicht zur Seite.

„Ziem­lich ge­fühls­du­se­lig, diese Ap­pas­sio­na­ta“, sagte er zu Forch. „Ich finde, man soll­te sie heut­zu­ta­ge nicht mehr spie­len.“

Vio­let hatte das Ge­fühl, als habe ihr je­mand einen Eimer mit eis­kal­tem Was­ser über­ge­kippt.

„Keine Sorge, Mr. Mar­low“, sagte sie, sich müh­sam be­herr­schend. „Ich werde Sie nie wie­der mit mei­nem Ge­klim­per be­läs­ti­gen.“

Damit stand sie auf und lief die Trep­pen hin­auf in ihr Zim­mer.

 

Warum hatte sie sich nur dar­auf ein­ge­las­sen? Sie hätte sich doch den­ken kön­nen, dass die­ser Ver­such zum Schei­tern ver­ur­teilt war. Ach, sie hatte so viel von sich preis­ge­ge­ben in ihrem Spiel – doch alle Ge­füh­le, die sie so offen ge­zeigt hatte, waren an sei­ner har­ten Scha­le ab­ge­prallt.

Vio­let saß auf ihrem Bett und ver­such­te, die Trä­nen zu­rück­zu­hal­ten. Nur un­deut­lich ver­nahm sie einen lau­ten, zor­ni­gen Wort­wech­sel, der unten in der Halle ge­führt wurde, dann schlug die Au­ßen­tür zu. Gleich dar­auf stürm­te je­mand die Trep­pe hin­auf, und die Tür der Bi­blio­thek wurde mit ziem­li­cher Kraft ins Schloss ge­wor­fen.

Warum be­neh­me ich mich so al­bern, dach­te sie und wisch­te sich die Trä­nen von den Wan­gen. Ich muss­te damit rech­nen, dass es so kom­men würde, wes­halb hatte ich nicht die Kraft, ihm eine kühle, iro­ni­sche Ant­wort zu ver­pas­sen und zur Ta­ges­ord­nung über­zu­ge­hen? Statt­des­sen bin ich wie eine dumme Gans da­von­ge­lau­fen und habe damit auch Forch den Abend ver­dor­ben.

Hal­tung be­wah­ren. Einer ade­li­gen Lady, die von Kind an dazu er­zo­gen wurde, ihre Ge­füh­le zu ver­ber­gen, wäre so etwas nicht pas­siert. Aber sie war nun ein­mal keine ade­li­ge Lady, nicht ein­mal eine ge­stan­de­ne Haus­da­me – sie war eine dumme, klei­ne Kla­vier­leh­re­rin, die sich ver­liebt hatte und bit­ter ent­täuscht wor­den war.

Ja, nun war es si­cher. Sie hatte sich in die­sen schreck­li­chen Men­schen ver­liebt. Wäre er ihr gleich­gül­tig, dann hätte sie jetzt al­ler­höchs­tens är­ger­lich sein dür­fen. Aber sie wein­te vor Ent­täu­schung.

Es war jetzt ruhig im Haus, nur aus der Küche war lei­ses Ge­klap­per zu hören – Mrs. Wa­ter­brook war mit dem Ab­wasch be­schäf­tigt. Vio­let erhob sich und trat ans Fens­ter, um in den düs­te­ren Hof zu star­ren. Eine Stra­ßen­la­ter­ne warf ihr dif­fu­ses, gelb­li­ches Licht auf das Pflas­ter und ließ die Wa­chol­der­bü­sche hin­ter dem Hof wie un­för­mi­ge Rie­sen er­schei­nen.

Es war hoff­nungs­los, sie kämpf­te gegen Wind­müh­len. Die Trä­nen flos­sen er­neut, und sie muss­te ein Ta­schen­tuch aus der Kom­mo­de her­vor­kra­men, um sich die Nase zu put­zen.

Schrit­te wur­den auf der Trep­pe hör­bar, gleich dar­auf schlurf­te je­mand über den Flur.

„Miss Burke?“, rief Maggy von drau­ßen.

„Was ist?“

„Mr. Mar­low lässt Sie bit­ten, zu ihm her­un­ter­zu­kom­men.“

Vio­let er­schrak. Ver­mut­lich war er wü­tend, weil sie da­von­ge­lau­fen war. Auf kei­nen Fall woll­te sie ihm mit rot ver­wein­ten Augen ge­gen­über­tre­ten.

„Ich … ich kann jetzt nicht. Sag ihm, ich sei schon zu Bett ge­gan­gen.“

Maggy ent­fern­te sich und Vio­let lausch­te mit ban­gem Her­zen auf ihre Schrit­te, unter denen die höl­zer­nen Trep­pen­stu­fen knack­ten und knarr­ten.

Jetzt würde er erst recht zor­nig auf sie sein. Ver­mut­lich würde er ihr eine hef­ti­ge Szene ma­chen und sie würde große Mühe haben, sich zu ver­tei­di­gen. Was konn­te sie ihm schon vor­wer­fen? Seine Kälte? Seine Un­höf­lich­keit? Sein man­geln­des Takt­ge­fühl? Sie wuss­te schon im Vor­aus, dass er dar­über nur la­chen würde.

Seuf­zend schloss sie die Gar­di­nen und be­gann, sich aus­zu­klei­den. Da hörte sie, wie unten eine Tür auf­ge­ris­sen wurde und je­mand die Trep­pe in den zwei­ten Stock hin­auf stieg. Es war nicht Mag­gys Schritt, der war schwer und lang­sam. Diese Fuß­trit­te waren elas­tisch und es hatte den An­schein, als nehme je­mand meh­re­re Stu­fen auf ein­mal.

Sie hatte ge­ra­de noch Zeit, ihr Kleid wie­der zu schlie­ßen, da klopf­te es an ihrer Tür.

„Miss Burke! Ich möch­te mit Ihnen reden!“

Sein Ton klang zwar ent­schlos­sen, aber kei­nes­wegs dro­hend. Den­noch wich sie er­schro­cken zu­rück und wäre fast gegen die Kom­mo­de ge­stol­pert. Er ließ sich nicht so ein­fach ab­wim­meln, das hätte sie sich den­ken kön­nen.

„Ich … ich bin im Be­griff, zu Bett zu gehen, Mr. Mar­low.“

„Es dau­ert nur we­ni­ge Mi­nu­ten. Las­sen Sie mich hin­ein, oder kom­men Sie in die Bi­blio­thek hin­un­ter.“

Was hatte er vor? Woll­te er gar wie­der eine sei­ner halb­her­zi­gen Ent­schul­di­gun­gen vor­brin­gen? Sie mit sei­ner schlau­en Über­re­dungs­kunst ver­söh­nen? Ich darf jetzt nicht nach­ge­ben, fuhr es ihr durch den Kopf. Nicht wie­der sein Spiel mit­spie­len.

„Kom­men Sie her­ein.“

Sie hatte die Tür in ihrer Auf­re­gung nicht ab­ge­schlos­sen, so brauch­te er nur den Tür­knauf zu dre­hen, um bei ihr ein­zu­tre­ten. Ruhig ging er ei­ni­ge Schrit­te in den Raum hin­ein, über­flog die Ein­rich­tung mit ra­schem Blick und blieb dann neben dem Kamin ste­hen. Sein Ge­sicht wirk­te im Schein der Gas­lam­pe noch blei­cher als ge­wöhn­lich, der Mund war sehr schmal und seine Augen fla­cker­ten un­ru­hig, als er Vio­let ansah. Er stand einen Mo­ment lang un­be­weg­lich und schien Mühe zu haben, das Ge­spräch zu be­gin­nen.

„Ich höre, Mr. Mar­low“, sagte Vio­let schließ­lich un­ge­dul­dig. Ihr wurde unter sei­nem in­ten­si­ven Blick un­be­hag­lich, denn ihm war ohne Zwei­fel auf­ge­fal­len, dass sie ge­weint hatte.

„Sie haben vor­hin ziem­lich hef­tig re­agiert“, sagte er. „Hät­ten Sie bes­ser zu­ge­hört, dann hät­ten Sie be­merkt, dass ich kein ein­zi­ges Wort über ihr Spiel ver­lo­ren habe. Meine Kri­tik galt aus­schließ­lich dem Werk, das mir mo­men­tan etwas ab­ge­dro­schen er­scheint.“

Es war eine ein­fa­che Fest­stel­lung und Vio­let er­kann­te ver­blüfft, dass er recht hatte. Er hatte Beet­ho­ven kri­ti­siert und nicht ihr Kla­vier­spiel. Im­mer­hin – es war schlimm genug.

„Die Ap­pas­sio­na­ta ist ein groß­ar­ti­ges Werk vol­ler Kraft und Emo­tio­nen“, sagte sie auf­ge­regt. „Wie kön­nen Sie da von ab­ge­dro­schen spre­chen?“

Er kniff die Augen zu­sam­men, als müsse er gegen den Wind lau­fen und wand­te den Kopf ein wenig zur Seite.

„Viel­leicht stört mich ge­ra­de diese au­ßer­or­dent­li­che Ge­fühls­auf­wal­lung. Die Men­schen emp­fin­den nicht alle gleich, Miss Burke.“

Seine Züge waren jetzt so ab­wei­send, dass sie fast starr wirk­ten. Er hatte die Au­gen­brau­en ge­senkt und sah an Vio­let vor­bei auf eine Stel­le an der Wand, wo nichts, aber auch gar nichts zu er­ken­nen war. Plötz­lich be­griff sie, dass seine Maske brö­ckel­te, dass er seine kalte Gleich­gül­tig­keit nur noch mit gro­ßer Mühe be­wah­ren konn­te. Er log, wenn er be­haup­te­te, diese Musik nicht zu lie­ben. Er wagte nicht ein­zu­ge­ste­hen, wie sehr ihn diese Klän­ge im In­ners­ten be­rührt hat­ten. Sie hatte er­reicht, was sie sich vor­ge­nom­men hatte.

„Ich ver­ste­he, Mr. Mar­low.“, sagte sie leise.

Der wei­che Klang ihrer Stim­me stand einen Au­gen­blick lang im Raum und sie sah, dass seine Wan­gen­mus­keln zuck­ten. Dann wand­te er ab­rupt den Kopf und sah sie mit grau­en, küh­len Augen an.

„Hören Sie zu, Miss Burke: Ich bin zu der Über­zeu­gung ge­kom­men, dass Sie nicht die Rich­ti­ge für diese Auf­ga­be sind. Des­halb schlag ich vor, dass wir uns un­ver­züg­lich tren­nen.“

Vio­let war auf alles Mög­li­che ge­fasst ge­we­sen, aber nicht dar­auf. Er woll­te sie fort­schi­cken. Ge­ra­de jetzt, da sie schon ge­glaubt hatte, einen Schritt wei­ter zu sein. Viel­leicht tat er es ge­ra­de des­halb.

„Aber … wir haben einen Monat Pro­be­zeit ver­ab­re­det.“

„Das weiß ich. Ich mache Ihnen des­halb ein An­ge­bot: Sie be­hal­ten alle Klei­der und ich zahle Ihnen zu­sätz­lich das Ho­no­rar für ein gan­zes Jahr. Al­ler­dings nur unter einer Be­din­gung.“

Es war ein un­glaub­li­ches An­ge­bot. Hun­dert Pfund für nur vier Tage, an denen sie ei­gent­lich kaum ge­ar­bei­tet hatte.

„Was für eine Be­din­gung?“

„Sie wer­den Lon­don ver­las­sen und sich ir­gend­wo in der Pro­vinz ein­rich­ten. Mit dem Geld wer­den Sie eine Weile zu­recht­kom­men – was Sie dann un­ter­neh­men, ist Ihre Sache.“

„Aber wes­halb soll­te ich das tun?“, wun­der­te sie sich.

„Das liegt doch auf der Hand“, gab er ge­las­sen zu­rück. „Ich habe Sie über­all als meine Nich­te vor­ge­stellt. Es wäre ziem­lich un­pas­send, wenn je­mand Sie in naher Zu­kunft in der Stadt tref­fen und dar­auf­hin an­spre­chen würde. Vor allem, falls Sie vor­hät­ten, wie­der bei Ihrer Freun­din Grace Un­ter­schlupf zu su­chen.“

Sie kniff die Lip­pen zu­sam­men und wurde zor­nig. So also war das. Sie hatte sein Spiel mit­ge­macht und nun, da er es sich an­ders über­legt hatte, soll­te sie ver­schwin­den, um ihm kei­nen Ärger zu be­rei­ten.

„Nein, Mr. Mar­low“, sagte sie ei­gen­sin­nig. „Ich ver­zich­te auf die­ses groß­zü­gi­ge An­ge­bot. Wenn Sie mich un­be­dingt los­wer­den wol­len, dann wer­den Sie den Pro­be­mo­nat ein­hal­ten müs­sen. Ich ver­las­se die­ses Haus kei­nen Tag frü­her. Auch nicht für Hun­dert Pfund!“

Jetzt war es an ihm, ver­blüfft zu sein. Es war sogar mehr als Ver­blüf­fung, es war blan­kes Ent­set­zen.

„Sie wer­den in die­sem Fall nichts er­hal­ten, Miss Burke. Wol­len Sie tat­säch­lich auf so viel Geld ver­zich­ten?“

Stolz hob sie den Kopf und blitz­te ihn mit schma­len Augen an.

„Ich be­har­re auf dem, was in un­se­rem Ver­trag steht!“

Er schlug wü­tend mit der Faust auf den Ka­min­sims und hätte dabei fast den klei­nen Me­tall­spie­gel her­ab­ge­stürzt.

„Zur Hölle mit Ihrem Starr­sinn! Ich weiß, dass Sie das Geld brau­chen kön­nen. Warum grei­fen Sie nicht zu, wenn es Ihnen in den Schoß fällt?“

„Ich will das Geld nicht“, sagte sie ruhig. „Ich möch­te nicht von hier fort­ge­hen.“

Er trat auf sie zu, un­si­cher und von Ge­füh­len, die er gar nicht zu­las­sen woll­te, hin und her­ge­ris­sen. Seine Augen waren jetzt weit ge­öff­net und sie färb­ten sich dun­kel.

„Du dum­mes Mäd­chen“, flüs­ter­te er. „Du denkst doch nicht etwa, ich würde dich …“

„Ich bin nicht naiv, Mr. Mar­low. Ich weiß sehr wohl, wer ich bin und woher ich komme. Eine Hei­rat zwi­schen uns ist voll­kom­men aus­ge­schlos­sen.“

Er war ihr schon zu nahe ge­kom­men und Vio­let spür­te die An­zie­hung, die sein Kör­per auf sie aus­üb­te.

„Ich ver­dopp­le die Summe“, fleh­te er.

„Nein.“

„Du bist wahn­sin­nig, Vio­let. Ich will, dass du gehst.“

Mar­low streck­te die Arme nach ihr aus. Sacht, und ohne sich des­sen be­wusst zu sein, streb­te sie ihm ent­ge­gen.

„Ich werde blei­ben“, hauch­te sie, wäh­rend er sie um­schlang.

Er such­te ihren Mund und seine Zunge dräng­te sich so hef­tig zwi­schen ihre Lip­pen, dass sie leise auf­stöhn­te. Sie hatte so stark blei­ben wol­len, doch jetzt, in die­sem Au­gen­blick war ihr alles gleich. Sie woll­te ihn nicht ver­las­sen, was auch immer er mit ihr tat.

Er be­tupf­te ihr Ge­sicht mit zärt­li­chen Küs­sen, strich ihr mit leich­tem Fin­ger das Haar aus der Stirn, ließ seine Hände zart um ihre klei­nen Ohr­mu­scheln krei­sen. Ihre vol­len Lip­pen boten sich ihm dar, so­dass er seine dar­auf press­te und tief mit der Zunge in ihre warme Mund­höh­le ein­tauch­te. Vio­lets Atem flog, sie hatte die Arme um sei­nen Na­cken ge­legt und er ließ die Hände ge­mäch­lich an ihrem Rü­cken ent­lang in die Tiefe glei­ten, um ihren Po zu er­tas­ten und ihr Be­cken sach­te an sei­nen Kör­per zu pres­sen.

„Du hast es so ge­wollt, Vio­let“, mur­mel­te er an ihrem Ohr.