Heaven's Rejects MC: Absolution

Originaltitel: Absolution (Heaven's Rejects MC Book 3)
Übersetzer: Jazz Winter

Erschienen: 01/2025
Serie: Heaven's Rejects MC
Teil der Serie: 3

Genre: Motorcycle Club Romance

Location: USA, Kalifornien


Erhältlich als:
paperback & ebook

ISBN:
Print: 978-3-86495-720-8
ebook: 978-3-86495-721-5

Preis:
Print: 16,90 €[D]
ebook: 6,99 €[D]

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Heaven's Rejects MC: Absolution


Inhaltsangabe

Sie ist durch die Hölle gegangen. Er hat sich gewaltsam aus der Hölle heraus gekämpft.

Erica "Ricca" Delmont hat genug vom Schmerz und der Dunkelheit ihrer Vergangenheit. Als sie erfährt, dass ihr jüngerer Bruder in einer Pflegefamilie lebt, ist sie fest entschlossen, ihr Leben neu zu ordnen – ein neues Zuhause, ein neuer Job, und ein Ausweg, um vor ihren Gefühlen für den Mann zu fliehen, den sie zwar immer lieben wird, aber nie für sich haben kann. Doch der Plan, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, wird schnell zerschmettert, als sie erkennt, dass Flucht nicht die Antwort ist.

Als Jude "Ratchet" Azzo zum Heaven's Rejects Motorradclub zurückkehrt und feststellt, dass Ricca verschwunden ist, entfesselt dies einen Sturm aus Wut und Besessenheit in ihm. Entschlossen, sie zurückzuholen und sie nicht nur zu erobern, sondern sie auch bei ihrem Kampf um das Sorgerecht für ihren Bruder zu unterstützen, zieht Ratchet alle Register.

In einem wilden Tanz aus Leidenschaft, Gefahr und unerbittlicher Entschlossenheit müssen Ricca und Ratchet gegen mehr kämpfen als nur ihre eigene Vergangenheit. Aber wie lange können sie der Explosion aus Herz, Hitze und Gefahr widerstehen, die zwischen ihnen entfacht wird?

Über die Autorin

Avelyn Paige ist eine Wall Street Journal- und USA Today-Bestsellerautorin von Romantic Suspense- und MC Romance-Geschichten. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf pelzigen Kindern in einer Kleinstadt in Indiana.
Wenn sie nicht gerade schreibt, verbringt Avelyn ihre Tage...

Weitere Teile der Heaven's Rejects MC Serie

Leseprobe

Ratchet

Nachdem ich nun zwei Tage lang gewartet habe, dass Voodoo seine Computermagie wirken lässt, konnte ich mich endlich auf den Weg machen, Ricca zu finden. Die meisten Männer in meiner Situation hätten womöglich den schnellsten Weg genommen, wie zum Beispiel das Flugzeug, doch ich brauche Zeit.
Zeit zum Nachdenken.
Zeit zum Planen.
Zeit, um herauszufinden, was zum Teufel ich tun werde, wenn ich sie tatsächlich finden sollte.
Laut Voodoo hat er ihre Spur bis zu einer kleinen Stadt direkt an der Staatsgrenze zwischen Kentucky und Indiana verfolgen können, aber wer weiß, ob sie sich dort überhaupt noch aufhält. Es ist...

...Monate her, seit sie abgehauen ist, und das alles könnte in einer wilden Jagd ohne Ergebnis enden. Allerdings kann ich nicht tatenlos herumsitzen und darauf warten, ob sie vielleicht zum Club und zu mir zurückkommt. Ich bin es mir selbst schuldig, es zumindest zu versuchen.
Der MC mag ihr das Leben gerettet und ihr Schutz angeboten haben, doch ihr war bewusst, dass sie eine solche Schuld niemals zurückzahlen kann.
Als Mann würde ich das nie von ihr verlangen und ebenso auch nicht der MC. Es ist keine leichte Aufgabe, jemanden vom Rand des Todes zurückzubringen und ihm wieder auf die Beine zu helfen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, verloren, hungrig und gebrochen zu sein. Nach solchen Schmerzen gibt es weder ein Zurück noch ein normales Leben danach.
Für mich gab es das jedenfalls nicht.
Unser Club war der einzige Ort, an dem sie Trost von ihrer Vergangenheit finden konnte, das war ihr klar, und dennoch ist sie abgehauen.
Obwohl ich gehofft hatte, dass der Tod ihrer Mutter die Ursache dafür sein könnte, würde ich mir niemals erlauben, es auf diese Weise zu erklären. Sie hatte ihre Dämonen, und das war mir bewusst, als ich mich auf das eingelassen habe, was auch immer das zwischen uns ist. Schon von Beginn an hatte es sich dabei um eine Beziehung mit Fluchtrisiko gehandelt, doch nachdem sie ein Jahr bei uns gewesen war, dachte ich dummerweise, dass es nie passieren würde, bis es geschehen ist.
Anzunehmen, dass sie sich im Club und bei mir wohlgefühlt hat, hat mich bisher keinen Schritt weitergebracht.
Ihre Flucht hat das Feuer in mir neu entfacht und mir einen Sinn gegeben. Antworten auf meine Fragen zu finden und abermals zu versuchen, sie zu erreichen. So lange es auch dauern mag, ich muss es zumindest noch einmal probieren — ihr und mir zuliebe.
Die Ebenen des Mittleren Westens rasen vorbei, während ich auf der Route 66 in Richtung Kentucky fahre. Die Reise verlief bei gutem Wetter reibungslos, allerdings steht Mutter Natur kurz davor, mir den Mittelfinger zu zeigen.
Nachdem ich heute den Tag auf der Straße bei blendendem Sonnenschein begonnen habe, hat sich das Ganze rasant in Gewitterwolken verändert. Nach ein paar Kilometern habe ich beobachtet, wie ein Blitz auf meiner Strecke in den Boden eingeschlagen war, dann ein Einschlag nach dem nächsten. So wie dieser Morgen anfing, hatte ich gehofft, noch vor Sonnenuntergang in Kentucky anzukommen. Der Sturm, der nun allerdings vor mir liegt, droht, meine verfluchten Fortschritte zu beeinträchtigen.
Mir wird klar, dass der Gewittersturm mir nicht den Gefallen tun wird, mir aus dem Weg zu gehen, also fahre ich an den Straßenrand und hole meine Regenkleidung aus den Satteltaschen. Ich nehme meinen Helm ab und lege ihn auf den Sitz meiner Maschine. Während ich mir den Regenmantel überwerfe, prallen dicke, nasse Tropfen vom Metall meines Bikes ab und sie zischen von der Hitze des laufenden Motors.
Shit. Ich muss schneller vorankommen.
Der Regen wird stärker, als ich meine Bikerstiefel ausziehe, um die Regenhose über meine Jeans zu stülpen. Ich tausche meine Stiefel, allerdings sind meine Socken bereits durchnässt, was die letzte Etappe der Reise weniger angenehm werden lässt. Nicht, dass es „angenehm“ wäre, mein Ziel zu erreichen, besonders nicht, wenn ich mich in den Feuersturm einer angepissten Ricca begebe. Ehrlich gesagt, stehen die Chancen ungefähr bei zwanzig Prozent, dass sie mir sogar eine reinhauen wird, weil ich sie aufgespürt habe, aber hey, ich bin ein Mann, der wettet. Ich nehme, was ich kriegen kann.
Donner grollt, als ich meinen Helm wieder aufsetze und auf meine Harley steige.
„Halt die Klappe, Mutter Natur. Ich benötige keine Erinnerung daran, in welchen Shitstorm ich hineinfahre. Das weiß ich bereits“, knurre ich leise, während der Donner erneut durch die Luft grollt. „Ich weiß es, verflucht noch mal.“
Ich schiebe den Ständer zurück und stürze mich direkt in das Gewitter, während ich die gesamte Zeit über vor mich hin fluche.
Stunden später gibt mir ein winziges Straßenschild mit weißen Buchstaben den ersten Hoffnungsschimmer, dass ich meinem Ziel näherkomme.
„Noch etwa sechzehn Kilometer“, sage ich zu mir. „Noch sechzehn Kilometer, um herauszufinden, ob sie mir in den Arsch tritt oder mich küsst, weil ich hier aufgetaucht bin.“
Die Sonne ist längst untergegangen und die Dunkelheit der Nacht geht in die Stille der Landstraße über, auf der ich mich bewege. Es ist bereits viele Kilometer her, dass ich das letzte Mal ein Haus oder eine Tankstelle gesehen habe. Es ist eine Erinnerung daran, wie dumm ich mich verhalte, dass ich es überhaupt versuche. Der einzige Mensch, der abhauen und hierherkommen würde, ist jemand, der nicht gefunden werden möchte. Begehe ich einen verfluchten Fehler, wenn ich den ganzen Weg herfahre, nur um sie zu sehen?
Selbstzweifel nagen an mir, als am Horizont die Lichter der Kleinstadt auftauchen. Während sie heller werden und näherkommen, beginnt mein Herz zu rasen.
Beruhig dich, verflucht noch mal. Du wirst ja nicht einmal so nervös, wenn du einen verdammten Wichser umbringst.
Ich zwinge mich, das, was auch immer mit mir gerade los ist, abzuschütteln, als ich in die Stadt komme. Winzige Wohnhäuser und Wohnwagen wechseln sich zu beiden Straßenseiten ab, ohne dass draußen eine Menschenseele zu finden ist. Das Rumpeln des Motors meines Bikes hallt von den unbeleuchteten Häusern wider, während ich an ihnen vorbeifahre.
Shit. Wohnt überhaupt noch jemand hier? Dieser Ort sieht eher aus wie eine verfickte Geisterstadt.
Nachdem ich einige weitere dunkle Straßen passiert habe, sehe ich endlich Lebenszeichen. Vor mir blinken die Leuchtreklamen zweier benachbarter Bars auf. Ich halte auf dem angrenzenden Parkplatz und stelle den Motor meiner Maschine ab. Der Parkplatz ist fast halb voll, was erklären würde, warum um diese Uhrzeit kaum Menschen in der Stadt unterwegs sind. Ich meine, Scheiße, nur weil es bereits zweiundzwanzig Uhr ist, heißt es noch lange nicht, dass hier die Bürgersteige bis zum nächsten Tag hochgeklappt werden. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass Ricca an einem Ort wie diesem bleibt. Andererseits jedoch bieten ihr diese beiden Bars zumindest Optionen.
Das Jahr, das ich sie nun kenne, hat gezeigt, dass sie eine Nachteule ist. Selten war es vorgekommen, dass ich vor drei Uhr morgens in mein Zimmer kam und sie schlafend vorgefunden habe. Zur Hölle, in der Hälfte der Fälle war es eher schon Morgendämmerung, ehe sie sich hingelegt hatte. Sie war immer so sauer geworden, wenn ich absichtlich Lärm verursacht habe, um sie aufzuwecken, doch das war Teil des Spaßes, den ich gerne mit ihr hatte. Ricca kniff dann meist die Augen zu, sobald ich das Licht eingeschaltet hatte, und schnaubte in meine Richtung. Obwohl sie sauer war, sah sie immer so wunderschön aus, während sie ausgestreckt auf meinem Bett lag.
Ihr langes, blondes Haar fiel wie aufgefächert bis auf meine Seite der Matratze, und es reichte mir, ihren Duft auf meinem Kissen zu riechen, während sie heilte. Ich nutzte die Gelegenheiten, die sie mir gab und nun habe ich die Chance, ein Spiel zu spielen, das ich selbst inszeniere.
Ich nehme meinen Helm ab, betrachte die beiden Kneipen vor mir und versuche zu entscheiden, in welcher ich mein Glück probieren soll.
Als ich ihr das erste Mal begegnet bin, hat sie in einer Bar gearbeitet, daher kann ich mir gut vorstellen, dass sie hier möglicherweise wieder versuchen würde, einen Job zu finden. Die Chance dafür steht fünfzig zu fünfzig, doch wenn ich falschliege, habe ich wenigstens einen zweiten Versuch.
Die erste Bar auf der linken Seite sieht sehr nach etwas aus dem alten Westen aus. Verwitterte Holzvertäfelung an der Außenfassade, mit seltsam bemalten grünen Fensterläden. Über der Eingangstür hängt ein rotes Leuchtreklameschild mit der Aufschrift Rusty’s. Dem Aussehen des Ladens nach zu urteilen, handelt es sich wohl um die Alt-Herren-Kneipe der Stadt, was sich sofort bestätigt, als zwei ältere Männer mit einem ebenso betagten Barkeeper auf den Fersen aus der Eingangstür stolpern.
„Schafft eure Ärsche gefälligst wieder hier her“, brüllt der Barkeeper. „Ihr habt eure Rechnungen nicht bezahlt, und ihr werdet mit Sicherheit nicht in diesem Zustand nach Hause fahren.“
Ich beobachte genau, wie der Barkeeper die beiden einholt und einem von ihnen den Schlüssel entreißt.
„Eure Frauen würden mir die Haut abziehen, wenn ich euch auf die Straße lasse. Kommt jetzt wieder rein und ich rufe Missy an, damit sie euch abholt.“
Die Männer gehorchen und folgen ihm zurück hinein, während ich meine Aufmerksamkeit auf die zweite Bar lenke. Dem Schild zufolge ist es das Wild Willie’s und es liegt ungefähr so weit gegenüber von Rusty’s, wie es nur möglich ist. Anstelle einer Holzverkleidung hat dieses wohl neuere Lokal Backsteinwände und LED-Beleuchtung, die aus jeder einzelnen Fensterscheibe der Bar strahlt. Die Leute, die ich nun mehrere Minuten lang beobachtet habe, wie sie zum Rauchen ein und aus gehen, wirken jünger.
Erneut blicke ich zwischen den beiden Läden hin und her, ehe ich eine Entscheidung treffe und von meiner Maschine steige.
Wild Willie’s also.
Nachdem ich mich meiner Regenkleidung entledigt und alles in den Satteltaschen verstaut habe, schließe ich mein Bike ab, für alle Fälle. Das hier mag keine Großstadt sein, aber auch in Kleinstädten wird jeder Scheiß geklaut.
Ich gehe auf die Bar zu. Musik strömt mir entgegen und trifft mich dann regelrecht wie eine Mauer, sobald ich den Innenraum betrete. Der Raum vibriert geradezu durch die Geräusche, die aus den Lautsprechern an der Decke ertönen. Schwarze Kunststoffnischen und -tische säumen den Raum, wobei die Sitzgelegenheiten mit der Bar im hinteren Teil des Lokals liegen. Ich mache mich auf den Weg zum überfüllten Tresen, als eine Kellnerin in ausgefransten, knappen Jeansshorts, einem weißen Top, das sich eng um ihre großen Titten schmiegt, und einem roten Flanellhemd in mein Blickfeld tritt und mich daran hindert, den Ort nach Ricca abzusuchen.
„Hey Süßer“, schnurrt sie mit einem leichten Südstaatenakzent. „Möchtest du etwas essen oder trinken?“
„Beides“, antworte ich schroff. Es war ein langer Tag auf der Straße und ich muss etwas essen und mich ein wenig entspannen, bevor ich mir einen Platz zum Schlafen für heute Nacht suche.
„Na dann, finden wir mal einen Tisch für dich und besorgen dir alles, was du brauchst“, flirtet sie zurück, während sie mich von Kopf bis Fuß mustert.
Ms große Titten führt mich zu einer leeren Sitznische und knallt die mit Plastik laminierte Speisekarte auf den Tisch, als ich mich hinsetze. „Mein Name ist Brenda, Süßer, und ich werde dir heute Abend alles servieren, was dein Herz begehrt“, verspricht sie und stützt ihre Hand in ihre Hüfte. „Schau dir in Ruhe die Speisekarte an. Wenn sie nichts für dich bereithält, sag einfach Bescheid. Ich bin mir sicher, dass ich etwas finden kann, was einen Mann wie dich zufriedenstellen kann.“
Ich zwinge mich zu einem Grinsen, allerdings ist es ebenso fake wie ihre Titten.
Bitte nicht falsch verstehen. Sie hat ein hübsches Fahrgestell, aber so ein schneller Fick nebenbei bringt meinen Motor nicht mehr auf Touren. Wäre das zu einem anderen Zeitpunkt passiert, bevor Ricca mir den Kopf verdreht hat, hätte ich sie längst auf allen Vieren, und würde ihr das geben, wonach sie scheinbar so sehr lechzt.
Leider ist das Menü „fremde Pussy“ für immer von meiner Speisekarte gestrichen, und egal, wie sie sich ins Zeug legt, es wird verflucht noch mal nicht passieren. Ricca war in meinen Geist eingedrungen und mit ihrer Invasion hat sie es geschafft, mir andere Frauen madig zu machen. Zumindest, bis ich weiß, wo wir stehen. Selbst mein Schwanz gibt sich ohne sie nicht mal mit meiner Hand zufrieden. Im Prinzip bin ich zu einem Ein-Pussy-Mann mutiert, bis Ricca mir etwas anderes sagt. Man kann es von mir aus unterm Pantoffel stehend nennen oder dass ich weich geworden bin, doch die Zeit, die ich mit ihr verbracht habe, hat mir vor Augen geführt, dass One-Night-Stands nichts Besonderes sind. Die Aufregung lässt nach, ebenso wie der Impuls.
„Hey, Brenda“, ruf jemand von der Ecke des Tresens. „Deine Bestellung ist fertig.“
„Shit“, murmelt sie. „Ich bin gleich wieder da.“
Als sie weggeht, seufze ich fast hörbar vor Erleichterung, da das einseitige Flirten vorerst vorbei ist. Ich werfe einen Blick auf die Speisekarte vor mir und wähle zufällig ein fettiges Menü, dass heute Abend meinen Bauch füllen wird.
Brenda streift mit ihrem Tablett auf der Hand durch den Raum, ehe sie zu mir zurückkehrt. „Und hast du etwas gefunden, das dich begeistert?“, lächelt sie mich an.
„Cheeseburger mit allem Drum und Dran, Pommes und zwei Budweiser“, erwidere ich stoisch.
„Ist das alles?“, fragt sie mit offensichtlichem Unterton.
„Das ist so ziemlich alles, was ich vor mir sehe und will. Und das Essen hätte ich gerne zum Mitnehmen.“
„Okay“, stottert sie, ehe sie sich wieder entfernt. Sie wirkt recht verblüfft über meine unterschwellige Abfuhr, aber ihre verletzten Gefühle sind mir scheißegal. Ich bin hier wegen des Essens, eines kühlen Biers und womöglich ein paar Hinweisen bezüglich Riccas Aufenthaltsort hier in der Stadt.
Brenda kehrt mit meinem Bier zurück, doch jetzt ignoriert sie meine Anwesenheit vollkommen und hat scheinbar kapiert, dass ich keinerlei Interesse an ihr hege.
Ich nehme einen Schluck aus der Flasche und die kühle Flüssigkeit trifft bei mir den richtigen Nerv. Ich war jetzt einige Tage unterwegs, und dies ist das erste Mal, dass ich für mehr als eine Pinkelpause oder eine schnelle Mahlzeit angehalten habe.
Ein paar Schlucke später bringt ein Tumult den Raum beinahe zum Schweigen, als ein Glas zersplittert, gefolgt von Geschrei. Ich kann beobachten, wie Leute aus ihren Sitzecken rutschen und sich in Richtung des Lärms drehen. Auch ich recke meinen Hals und blicke um die Ecke meiner Sitznische, um zu sehen, was für ein Streit sich da an der Bar abspielt, doch um die Akteure hat sich eine Menschenmenge angesammelt.
„Ich sagte: Finger weg, du Wichser“, schallt eine Frauenstimme durch den Raum. „Nein heißt verdammt noch mal, nein.“
„Komm schon, Puppengesicht, ich habe doch nur Spaß gemacht“, nuschelt ein Mann undeutlich, und dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, ist er ziemlich betrunken. „Ich will doch nur wissen, was sie unter ihrem Shirt versteckt.“
„Und ich möchte gerne wissen, was in deinem Hirn so vor sich geht, Johnny. Du wurdest schon einmal gewarnt, deine verdammten Griffel bei dir zu behalten. Hat dir deine Mama keine Manieren beigebracht? Willie!“, ruft die Frau nun. „Beweg deinen verfluchten Arsch hier raus und schaff dieses Stück Scheiße von meinem Barhocker weg.“
Die schweren Schritte eines großen Mannes gehen an mir vorbei und auf die Menge zu, die sich für ihn aufteilt. Kurze Zeit später taucht der Hüne mit einem Kerl im Schwitzkasten wieder auf, der sich dagegen wehrt und bemüht, sich davon zu befreien.
„Ich bin nicht betrunken, Willie“, kichert er. „Diese Schlampe hat das alles nur erfunden. Ihre Mutter ist eine Hure und sie ist es auch. Man kann einem Mann doch nicht vorwerfen, wenn er versucht, eine Gratisprobe zu bekommen.“
Willie knurrt und schneidet dem Kerl die Luft ein wenig mehr ab. „Johnny Monroe“, brüllt er, „wenn du dich noch einmal in dieser Bar zeigst, überlasse ich dich ihr. Hübsches Gesicht hin oder her, sie wird dir so einen auf die Glocke geben, dass du erst nächsten Dienstag wieder aufwachen wirst.“ Er protestiert, bis außerhalb des Gebäudes eine Sirene aufheult. „Deputy McDaniel wartet draußen auf dich, Zeit, auszunüchtern, mein Sohn.“
Johnny kämpft, als Willie ihn loslässt und durch die Tür nach draußen stößt. Die blinkenden blauen und roten Lichter der Lokalpolizei werden von der Glasscheibe der Vordertür reflektiert, während die Offiziellen den Parkplatz erreichen.
Der Barbesitzer sieht zu, wie der Beamte Johnny in Gewahrsam nimmt, kehrt dann zur Bar zurück und die Menge der Schaulustigen löst sich auf.
Mein Blick folgt Willie, als er hinter dem Tresen auf eine Brünette zugeht. Ich beobachte, wie er den Arm um die Frau legt, und sofort spanne ich mich an, als ich sehe, wie er die Frau berührt.
Fuck, warum zum Teufel reagiere ich so, nur weil ein Typ seine Angestellte tröstet?
Je länger sein Arm um die Schulter der Frau liegt, desto mehr wächst die Spannung in mir. Ihr Gesicht bleibt vor mir verborgen, als sich eine weitere Kellnerin zu ihr gesellt, um ihr ebenfalls gut zuzureden. Es kann nicht sie sein. Oder doch?
In dem Moment, als die Brünette sich umdreht, bleibt mir das Herz stehen und mir wird schlagartig der Grund für meine Anspannung klar, nachdem ein mir bekanntes Gesicht dazu zum Vorschein gekommen war.
Ricca.
Mein Körper erstarrt sofort und ist nicht mehr bereit, sich zu bewegen, für den Fall, dass sie nur eine Fata Morgana ist. Monatelang waren wir voneinander getrennt und doch berührt mich ihre Anwesenheit noch immer, als wäre sie nicht fortgegangen. Ihre mandelförmigen, braunen Augen haben mich in jedem meiner Träume verfolgt. Diese perfekt platzierten Kurven ihres Körpers. Selbst ihre Narben, die ihre Haut wie Kriegswunden markieren, locken mich, jede einzelne von ihnen küssen zu wollen. Sie war mein Ein und Alles, als ich sie noch mein nennen konnte.
Meine wunderschöne, beschädigte Kreatur. Meine Sirene.
Jede Nacht hatte ich das Gefühl, sie ruft nach mir. Bittet mich, sie zu finden. Bettelt darum, zu ihr zu kommen.
Ja, mir ist durchaus klar, dass diese Gedanken absolut durchgeknallt klingen, doch ich weiß, was ich fühle. Es ist schwer, etwas zu umschreiben, das zuvor nie existiert hat, bis sie in meinem Leben aufgetaucht war. Nun ja, „aufgetaucht“ ist hier mehr ein relativer Begriff. Ricca ähnelt eher einer fragilen Blume mit Dornen. Zart und schön, bis sie das Bedürfnis verspürt, zuschlagen zu wollen. Wenn man ihre Blüten auf die richtige Weise berührt, ist sie weich und liebevoll. Sobald man sie jedoch falsch anfasst, würde sie denjenigen blutend und vor Schmerzen schreiend zurücklassen.
Sie ist die Verkörperung einer rachsüchtigen Göttin und sie gehört mir.
Mein Blick bleibt bei ihr und ich beobachte jede ihrer Bewegungen und jegliche Berührung, die ihr Boss ihr angedeihen lässt. Ein leises Knurren bildet sich in meiner Kehle, während sich diese Szene vor mir abspielt. Es hat Monate gedauert, bis ich dahin gekommen bin, wo er jetzt ist. Womöglich war es doch eine schlechte Idee. Ich stehe auf und gehe, aber sie umrundet die Ecke des Tresens und ermöglicht mir endlich einen vollständigen Blick auf sie. Genau in diesem Moment wird mir klar, dass, egal, wie sehr sie mich von sich stößt, ich nicht verschwinden werde. Nicht, ohne sie vorher gesehen zu haben.
Jahrelange Misshandlungen und der Kampf ums Überleben hatten ihre Ausstrahlung getrübt. Doch da ist sie und strahlt wie am längsten Tag des Jahres. Ihr Haar trägt sie noch immer lang, aber die hellblonde Farbe von zuvor ist nun durch ein Schokoladenbraun ersetzt worden, das ich jetzt, dank Voodoo, als ihre Naturhaarfarbe erkenne. Der Farbton ihres Haares war mir noch nie so wichtig wie in diesem Moment. Das Schokobraun umrahmt ihr Antlitz wie der Heiligenschein eines Engels, und ich liebe es. Ihr Gesicht ist natürlich, gänzlich ohne die Kriegsbemalung, an der sich einige Frauen festhalten, um ihre Makel zu verbergen.
Das Make-up, das sie in Kalifornien trug, funktionierte als ihre ganz eigene Tarnung. Dahinter verbarg sie ihren Schmerz, doch egal, wie viel sie davon auflegte, ich konnte ihn stets darunter erkennen. Sie braucht diese Schminke nicht und sie jetzt so zu sehen, fühlt sich an, als würde ich wieder das Atmen lernen, nachdem mir jemand den Atem gestohlen hatte.
Ihr Körper besitzt inzwischen noch schönere Kurven. Ihre Hüften sind runder und ihr perfekter Arsch neckt mich, als sie erneut hinter die Bar huscht. Die knallenge Jeans, die sie sich scheinbar auf den Leib gemalt hat, lässt meinen harten Schwanz enorm gegen meinen Reißverschluss drücken. Ich versuche, mich zurechtzurücken, doch mir ist klar, dass das die massive und kritische Situation in meinem Schritt nicht entschärfen wird. Sosehr ich auch auf sie zulaufen möchte und ihr ordentlich den Verstand wieder einvögeln will, dafür, dass sie mich verlassen hat, bleibe ich, wo ich bin. Möglicherweise gehört sie mir gar nicht mehr.
Eifersucht windet sich in mir, sobald ein dunkler Gedanke in meinem Kopf aufblüht.
Musste sie mich verlassen, um sich selbst wiederzufinden? Hat dieser Ort sie wieder zum Strahlen gebracht? Wie kann ich sie von diesem Ort wegholen, wenn sie hier doch glücklich ist?
Eine Frage nach der anderen füllt meinen Verstand und schürt die Saat des Zweifels weiter.
Jeder Knochen in meinem Leib schreit mich an, zu ihr zu gehen, aber ich zwinge mich dazu, abzuwarten, ob sie mich hier spürt. Das Letzte, was ich will, ist, sie zu verschrecken. Geduld mag nicht gerade einer meiner Tugenden sein, allerdings muss ich es langsam angehen. Ich beobachte sie aufmerksam. Sie zittert unter der Berührung ihres Bosses, was ihr, wie ich weiß, Unbehagen verursacht, und plötzlich ergibt meine Reaktion Sinn.
Während die anderen um sie herum es nicht mitbekommen haben, habe ich es bemerkt. Ich habe Monate damit zugebracht, sie zu observieren, und die kleinen Dinge an ihr mir zu bemerken, wie beispielsweise ihre Abneigung bezüglich Berührungen von jemandem außerhalb ihres Vertrauenskreises. Und in diesem Kreis ist es verflucht einsam, denn neben Dani war ich das einzige männliche Mitglied dieser Gruppe.
Es hat nach ihrer Zeit beim Twisted Tribe Monate gedauert, bis Ricca sich damit wohlgefühlt hat, dass ich mit ihr in einem Zimmer blieb. Diese Wichser haben sie zum Verrecken in diesem Keller zurückgelassen, doch sie sollte dort nicht sterben. Wenn ich nur daran denke, wie ich sie vorgefunden habe, schießt mir die Wut durch die Adern. Alles war voller Blut gewesen und ihre Haut so heftig verletzt, im Gegensatz zu den hübschen Bräunungstönen, die sie jetzt trägt.
Wie sie das überlebt hat, werde ich wohl nie erfahren.
Sie hat in meinem Bett geschlafen, während ich mich mit einer schäbigen Couch begnügt habe, die ich aus einer der Lagerhallen in mein Zimmer geschafft hatte. Es war nicht sonderlich bequem, mit dieser blöden Feder, die sich in meinen Rücken gebohrt hat, aber sie brauchte Zeit und Raum, um zu heilen. Es war das Mindeste, was ich für sie tun konnte.
Mit gesenktem Blick zapft sie einem Gast an der Bar ein Bier vom Fass. Mit Leichtigkeit lässt sie das volle Glas über die Theke gleiten, bevor sie zur anderen Barkeeperin geht. Sie sagt etwas zu ihr, während sie die Bar hochklappt und dahinter hervorkommt. Sie macht ein paar Schritte, bleibt jedoch dann stehen. Zum ersten Mal, seit ich sie gesehen habe, blickt sie auf und sondiert den Raum, fast so, als würde sie jemand Bestimmtes in der Menge suchen.
Sie steht noch knapp eine Minute lang so da, bis sie womöglich ungläubig den Kopf schüttelt. Mit einem letzten Blick in die Runde schlendert sie zum Seitenausgang hinaus und genau das eröffnet mir eine Gelegenheit.
Ich werfe für Brenda einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tisch und rutsche aus der Sitznische. Aus einer Mischung von mangelnder Nahrungszufuhr und Nervosität knurrt mein Magen, allerdings ist nicht Essen das, was mich befriedigen wird, jetzt, da ich sie gefunden habe. Sie ist es, wonach ich in den letzten Monaten gehungert habe, und sie wird das Einzige sein, das diese nagende Qual in mir stillt.
Jetzt oder nie, Ratchet. Lass es langsam angehen und mal sehen, wie es läuft.
Ich schlendere auf die Seitentür zu, durch die sie verschwunden ist, und öffne sie vorsichtig. Ich schaue nach links, finde jedoch niemanden, aber als ich nach rechts abbiege, erkenne ich ihr Profil, das von der Neonreklame über ihrem Kopf beleuchtet wird. Das leise Knarren, als sich die Tür hinter mir schließt, erschreckt sie offenbar nicht. Ich atme tief ein, bevor ich ein paar Schritte näher an sie herangehe. Ihre große, kurvige Gestalt lehnt, von der Nacht umschmeichelt, an der Wand.
Hätte ich gewusst, dass es sich um sie gehandelt hatte, die ohne Erlaubnis berührt worden war, hätte Johnny Boy diesen Ort nicht auf seinen eigenen Füßen verlassen. Kein Mann hat es verdient, ihre weiche Haut zu berühren. Selbst ich nicht, doch aus irgendeinem Grund hatte sie mich für den Bruchteil eines Wimpernschlages in ihre Welt gelassen.
Ich beobachte, wie sich ihre Brust in einer panischen Reaktion auf die Begegnung in der Bar auf und ab bewegt. Das habe ich schon oft während ihres Genesungsprozesses im Clubhaus mitbekommen. Die kleinste Berührung, oder ein versehentliches Streifen von einem meiner Brüder hatte Panikattacken in ihr ausgelöst. Anfangs hat es mich schier umgebracht, als Zuschauer ihrer Attacken verdammt zu sein, doch nachdem sie mich an sich herangelassen hatte, wurde ich zu einer Quelle des Trostes für sie.
Sie erneut so zu sehen, lässt meinen Körper rebellieren, damit ich hinspringe und sie beruhige.
Tu es einfach, du Feigling. Reiß endlich das Pflaster ab und rede mit ihr.
In Dunkelheit gehüllt nähere ich mich ihr, allerdings hat sie mich gehört und dreht ihren Kopf in meine Richtung.
So viel zu dem Thema, sich ihr leise zu nähern. Tolle Idee, Arschloch.
„Johnny, wenn du das bist, solltest du verdammt schnell von hier verschwinden. Willie wird dich umbringen, wenn du wieder gegen seine Tür pinkelst.“
„Johnny Boy wird dich nie wieder belästigen, Sirene.“
Ihr Körper spannt sich an und ihre Augen weiten sich, bevor sie hörbar nach Luft schnappt.


Ricca

„Ratchet“, gebe ich mit einem Quietschlaut von mir und kann gar nicht fassen, dass er überhaupt hier ist. Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich bemühe mich, taub dafür zu sein, bis ich meine Nerven wieder unter Kontrolle habe.
Das, was ich am meisten bedauere, in Kalifornien zurückgelassen zu haben, steht jetzt vor mir, und er sieht aus, als wolle er mich auf der Stelle mit Haut und Haaren verschlingen.
„Sirene“, erwidert er kühl und tritt in das Licht, das durch die Fenster der Bar strahlt.
Mein Herz rast wie ein außer Kontrolle geratener Zug, der kurz vor der Entgleisung ist, und dann begreife ich erst richtig, dass er tatsächlich hier ist. Das hier ist kein Traum oder eine Halluzination. Er steht hier vor mir, und ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Soll ich weglaufen? Soll ich in seine Arme springen? Mache ich beides gleichzeitig? Unentschlossenheit und Aufregungen kämpfen in meinem Inneren miteinander und lassen mich erstarren. Wie kann ein Mann solch eine Macht über mich haben?
Diese Frage zu stellen, ist simpler als gedacht, denn unsere Vergangenheit ist genauso kompliziert wie unsere derzeitige Situation. Er ist der Mann, der nicht einmal bemerkt hat, wie sehr er mir am Herzen liegt, bevor er gegangen ist. Er hat den Schlüssel zu meinem Herzen in der Hand gehalten und hatte jedoch keine Lust, ihn zu nutzen. Ich wollte ihm gehören, doch das war nur ein geplatzter Traum, den ich in Kalifornien zurückgelassen habe.
Er ist der Mann, der eine Frau in den Wahnsinn treiben kann, wenn sie versucht, herauszufinden, wie sein Gehirn tickt. Genau wie jetzt streiten mein Herz und mein Verstand darüber, ob ich wütend oder begeistert sein soll, ihn wiederzusehen. Es ist wie zwei Familien, die sich auf einem Schlachtfeld gegenüberstehen. Keine Seite wird den Krieg gewinnen, ohne im Gegenzug etwas zu verlieren.
Die Panikattacke von vorhin, vor meinem Boss Willie, der versucht hatte mich zu beruhigen, ist nicht einmal im Ansatz vergleichbar mit dem Wirbelsturm an Emotionen, der sich im Moment in mir zusammenbraut. Ein Teil von mir hüpft innerlich vor Freude, in dem Wissen, dass er mich hier aufgespürt hat, doch die dunkle Seite in mir füllt meinen Geist mit Zweifeln und Misstrauen.
Er ist nur hier, um dich zurückzubringen, damit du deine Schuld beim Club abbezahlen kannst.
Du kennst weder seine Absichten noch seine Gründe.
Er ist hier, um dich zu töten, weil du ihn betrogen hast und einfach abgehauen bist.
Im Zweifel für den Angeklagten. So etwas würde er mir nie antun.
Bist du wirklich so naiv, zu glauben, dass ihm diese eine Nacht etwas bedeutet hat?
Hör auf, dem Teufel auf deiner Schulter zuzuhören.
Hör auf mich, es ist der einzige Weg für dich, um zu überleben.
Mein Blick bleibt auf ihn gerichtet, während er sich mir weiterhin nähert. Bei jedem seiner Schritte strömt eine Wärme über meinen Körper, als Reaktion auf seine Anwesenheit. Erst als er mir direkt gegenübersteht, kann ich die stumme Fassungslosigkeit abschütteln.
Sein massiver Leib scheint den meinen zu umhüllen, den eines Kindes statt einer Erwachsenen. Er war schon immer größer als ich, doch in diesem Moment kann ich jeden Zentimeter spüren, den er mich überragt. Es ist nervenaufreibend und aufregend zugleich. Seine breite Brust ist inzwischen noch muskulöser, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und seine Arme wirken definierter, als wären sie aus Marmor gemeißelt. Sieht so aus, als wäre das Fitnessstudio seit meiner Abwesenheit zu seinem besten Freund geworden. Ich habe zuvor nie gesehen, dass er einen Vollbart hatte, aber jetzt trägt er am Kinn eine viel dickere Schicht Haar als sonst. Sein dunkles Kopfhaar ist kurzgeschoren, doch es sind eher seine Augen, die mich erstarren lassen. Ihre dunklen, braunen Farbtöne bohren sich mit jeder weiteren Sekunde in meine Seele und derzeit sind sie auf mich gerichtet.
Verdammtes Arschloch. Ich verlasse ihn und er taucht noch besser aussehend hier auf. Widersteh ihm, Ricca. Dies ist weder die Zeit noch der Ort dafür.
„Warum bist du hier?“, platzt es aus mir heraus, weil ich ansonsten nicht weiß, was ich zu ihm sagen soll.
Na großartig, Ricca. Es ist Monate her, seit du den Mann das letzte Mal gesehen hast und du benimmst dich wie eine Teenager-Göre, die sich mit ihrem ersten Schwarm unterhält. Lass ihn gehen. Ermutige ihn nicht, damit zeigst du nur Schwäche.
Du bist doch kein verwundetes Reh. Herrgott noch mal.
„Ich bin deinetwegen hergekommen“, erklärt er eindringlich.
Seine Hände bewegen sich auf mich zu, aber ich zucke zurück und bemühe mich, den Abstand zwischen uns aufrechtzuerhalten. Ich schwanke jedoch, weil mein Körper zu ihm drängt, zu ihm will, und er fängt mich auf. Nach allem, was geschehen ist, verrät mich mein Leib immer noch. Ratchet nutzt seine Chance und rückt näher. Der Geruch seines holzigen Eau de Cologne lockt mich regelrecht, mich an ihn zu schmiegen. Mich in seiner Wärme zu vergraben und dortzubleiben, wo ich weiß, dass ich in Sicherheit bin. Es ist wie die Zeitlupenversion eines Tanzes zwischen Beute und Raubtier, ehe das Raubtier mit Tötungsabsichten losstürmt.
Ich versuche, von ihm wegzukommen, aber mein Rücken prallt dabei gegen die Hauswand. Ich stolpere und Ratchet will mich auffangen, doch ich schrecke vor seiner Berührung zurück. Meine Augen weiten sich, als ich bemerke, wie er angesichts meiner Ablehnung zusammenzuckt.
„Bitte hör auf“, protestiere ich gegen seine Nähe. „Bitte, Ratchet. Nicht so nah.“
„Sirene, ich …“, beginnt er, bevor ich meine Handfläche zwischen uns hebe und die Unterhaltung an dieser Stelle unterbreche, weil ich ahne, in welche Richtung sie gehen wird. Ich kann das im Moment nicht hören. Ich bin aus einem guten Grund hier und nicht einmal er kann mich davon ablenken. Mein Fokus muss auf Asher liegen, und die Anwesenheit von Ratchet wird die Angelegenheit nur noch komplizierter machen.
„Du kannst nicht hier sein. Du solltest nicht hier sein“, stammele ich, und mir ist klar, dass ich ziemlich dämlich klinge, während ich mich wiederhole. Es kommt mir so vor, als würden sich mein Mund und mein Verstand weigern, zusammenzuarbeiten, um aus dem Schock ein schlüssiges Argument zu formulieren. Wenn ich mir selbst eine Ohrfeige verpassen könnte, hätte ich es längst getan.
Ratchet hebt eine Augenbraue und blitzschnell schlägt er eine seiner Hände direkt neben meinem Kopf gegen die Backsteinmauer. Der Aufprall saugt mir geradezu die Luft aus den Lungen und bringt mich zum Schreien. Mir ist klar, dass er mich nicht verletzen will. Er ist nicht der Typ Mann, der seine Hand gegen eine Frau erhebt. Es ging ihm schlichtweg darum, meine volle Aufmerksamkeit zu erregen. So eine Art Alphamännchen-Schock-Therapie, die Ehrfurcht einflößen und mich dazu bewegen soll, mich zu unterwerfen. Tja, schade für ihn, denn allein seine Anwesenheit hat das längst für ihn erledigt.
„Kein guter Zeitpunkt, Sirene?“, witzelt er mit einem Anflug von Verärgerung in seiner Stimme. „Wann wäre denn ein guter Zeitpunkt gewesen? War es, bevor oder nachdem ich von der Erledigung der Clubangelegenheiten zurückgekommen bin und festgestellt habe, dass du verdammt noch mal aus dem Clubhaus verschwunden bist? Keine Nachricht. Keinen Hinweis darauf, warum du abgehauen bist. Einfach weg.“
Ich versuche, ihm auszuweichen, aber er drückt seine Brust an meine und hält mich so an Ort und Stelle. Meine erregten Brustwarzen streifen ihn und ich zittere wegen dieses Körperkontaktes. Er schmunzelt, als er es bemerkt. Der Mistkerl weiß haargenau, dass mein Körper auf seine Anwesenheit reagiert, und er nutzt das zu seinem Vorteil aus. Von allen Leuten, die wissen, wie man schmutzig spielt, ist Ratchet der Meister, und ich bin seine willige Marionette.
„Ich bin abgehauen?“, werfe ich ihm als Argument entgegen. „Ich war nicht diejenige, die als Erste gegangen ist. Das warst du.“
„Jesus, Ricca. Glaubst du allen Ernstes, dass ich das getan habe? Dass ich dich verlassen habe?“, zischt er. „Ich musste mich um Clubangelegenheiten kümmern und ich dachte, du hättest verstanden, dass das an erster Stelle steht. Es wird immer an erster Stelle stehen.“ Sein heißer Atem strömt über meinen Hals, während er mit seinen Lippen näherkommt und fast die meinen streift.
„Mir sind deine Clubangelegenheiten scheißegal. Du hattest deine Chance und hast sie nicht genutzt. Jetzt geh“, fordere ich und bleibe standhaft. Meine Haltung bleibt stur.
„Netter Versuch, Sirene. Dieses ganze Getue, hart und böse zu wirken, passt nicht zu dir“, sagt er und mustert mich von oben bis unten. „Du hast wohl vergessen, dass ich weiß, wer du bist, was deine Tricks sind und wie dein Verstand funktioniert. Ich kenne dich besser als du dich selbst, und im Moment stößt du mich weg, weil du dich vor Angst schützen willst. Die Angst davor, mal etwas zu empfinden.“
„Geh“, verlange ich erneut. „Ich will dich nicht hier haben.“
„Ist es wirklich das, was du willst? Nach allem, was ich dir gegeben habe?“
„Du hast mir einen Scheiß gegeben“, schieße ich zurück. Warum glaubt er, dass er derjenige war, der mir die Welt geschenkt hat? Er hat sie vielleicht ein wenig erträglicher gemacht, doch alles, was mir in meinem Leben gegeben wurde, war stets mit einem Preis verbunden, den ich für ein Kilo von meinem Fleisch bezahlt habe. Das Einzige, was er mir gegeben hat, ist ein Grund, hierzubleiben.
„Willst du mich etwa verarschen? Du willst wissen, was ich dir gegeben habe? Ich habe dir Raum gegeben, den du anscheinend gebraucht hast. Ich habe dir Zeit gegeben, damit du deinen Scheiß auf die Reihe bekommen kannst. Und weißt du, was ich nicht getan habe?“, brüllt er mir entgegen, während ich wegen seines bösartigen Tonfalls erzittere.
Zur Antwort schüttele ich meinen Kopf, weil ich keine hörbare Erwiderung von mir geben kann, die er von mir erwartet.
„Ich habe nicht herausfinden können, warum du vor dem Club davongerannt bist, vor Dani und vor allem nicht, warum du vor mir geflohen bist.“ Er lockt mich dazu, ihm zu geben, was er will, doch sobald ich ihm von Asher erzähle, weiß ich, dass er nie nachvollziehen könnte, warum ich mir solche Mühe gebe, ihn zu bekommen.
Der MC ist sein Zuhause.
Die Männer an seiner Seite sind seine Brüder.
Das sind die Dinge, die ihm wichtig sind.
Seine Familie wurde aus Feuer geschmiedet, während meine im Wind von Missbrauch und Verrat zerfetzt worden ist. Das ist ein Konzept, das nur jemand verstehen kann, der es erlebt hat. Asher ist meine Chance, ein Stück von dem zu bekommen, wie sich eine echte Familie anfühlen sollte, und ich möchte diesen ausgefransten Faden so energisch wie nur möglich festhalten. Ich mag Asher vielleicht noch nicht einmal kennen, doch er ist mein Blut, und das ist alles, was zählt.
Wenn ich ihm davon erzählen würde, würde Ratchet sich nur in die Situation hineindrängen und jegliche Chancen zunichtemachen, die ich hätte, das Sorgerecht für Asher zu erhalten. Ein Biker und meine bewegte Vergangenheit würden einzig und allein dafür sorgen, dass mein Bruder für den Rest seines Lebens in den Händen meines Vaters bleiben müsste. Es ist ein Risiko, das ich nicht eingehen will.
„Du verstehst es nicht“, erwidere ich, ehe er mich erneut unterbricht. Er widerspricht, aber die Seitentür schwingt auf und Willie tritt heraus.
„Ricca, deine Pause ist seit zwanzig Minuten zu Ende“, bellt er, bevor er bemerkt, wie mich Ratchet gegen die Hauswand drückt.
Willies Körperhaltung wirkt angespannt, bereit für einen Kampf. „Was zur Hölle ist hier los?“, knurrt er und ballt seine Fäuste. „Macht er dir Probleme?“ Er kommt auf uns zu.
Ich stoße Ratchet von mir und dieses Mal weicht er zurück. Je weiter er von mir entfernt ist, desto größer sind die Chancen, dass Willie nicht versuchen wird, ihm in den Arsch zu treten. Willie mag vielleicht der Schwergewichts-Champion im Arschtreten in seiner Bar sein, doch Ratchet würde den Boden mit ihm aufwischen. Das ist etwas, das ich absolut vermeiden möchte.
Willie schlendert auf uns zu und bleibt neben Ratchet stehen.
„Es ist in Ordnung, Willie. Er ist nur ein Freund aus einem vergangenen Leben, der Hallo sagen will.“
Ratchet kneift die Augen zusammen, sobald das Wort „Freund“ über meine Lippen kommt. Wir wissen beide, dass diese Beschreibung nicht annähernd unsere Beziehung zueinander beschreibt. Ehrlich gesagt, habe ich nicht einmal eine Ahnung, ob es im Duden eine Bezeichnung dafür gibt. Wir sind einfach wir. Zwei komplizierte dunkle Seelen, die sich bemühen, einen Platz in der Gegenwart des anderen zu finden, ohne sich dabei selbst zu zerstören.
„Bist du sicher, dass alles okay mit dir ist?“, hakt Willie weiter nach und beobachtet Ratchet aufmerksam.
„Natürlich. Er wollte sich gerade verabschieden, bevor er verschwindet. So ist es doch, oder?“, antworte ich nervös und bitte ihn mit meiner Mimik, meinem Beispiel zu folgen, ehe wir beide mit meinem Boss und der örtlichen Polizei in Konflikt geraten.
„Ist dem so, junger Mann?“
Ratchet starrt mich an, während ich zurücklächle, und flehend den Kopf schüttele.
„Ich denke, ich bleibe vielleicht ein wenig länger“, erwidert er, und sofort drehe ich mein Gesicht zu ihm. „Es ist lange her, dass ich einen ruhigen Ort wie diesen hatte, wo ich ein wenig auf Seelensuche gehen konnte. Möglicherweise werde ich hier sogar etwas von der Geschichte der Stadt erfahren, da es meiner Freundin hier so gut zu gefallen scheint.“
Willie mustert ihn ein weiteres Mal, ehe er ihn als unbedrohlich abtut. „Na dann, warum lassen wir Ricca nicht zurück an die Arbeit gehen, damit du und ich uns in Ruhe über diesen Ort unterhalten können? Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, und wenn du auf der Suche nach der Geschichte bist, bin ich dein Mann“, erklärt Willie und klopft Ratchet grob auf die Schulter. Das Schulterklopfen bringt ihn nicht einen Zentimeter zum Schwanken, stattdessen grinst Ratchet meinen Boss nur an.
Er weiß ganz genau, worum es bei diesem Austausch ging. Es war eine Art „Wer hat den Größeren von uns beiden“-Pisswettbewerb. Willie grinst uns beide an, dann dreht er sich und geht zur Seitentür zurück. Einen Moment lang hält er inne, als er die Tür öffnet und einen Blick zu uns über die Schulter wirft. „Süße, die Gäste warten.“
„Ich komme, Willie“, sage ich, doch Ratchet packt mein Handgelenk und zieht mich an sich, bevor ich zu weit weg von ihm bin.
„Das hier ist noch nicht vorbei. Wir unterhalten uns später. Das solltest du besser glauben, Sirene“, flüstert er mir mit gedämpfter Stimme zu. Die Vibrationen seiner Worte lösen eine Gänsehaut auf meinem Körper aus.