Ihre erste große Liebe hat ausgerechnet an Weihnachten mit ihr Schluss gemacht. Und nun kommt Boris nach zehn Jahren zurück in die Stadt, um seine Eltern über die Feiertage zu besuchen.
Rache ist süß, denkt Lulu, und plant ein Weihnachtsfest für ihn, das er garantiert nie vergessen wird ...
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Sara-Maria Lukas (alias Sabine Bruns) war gebürtige Bremerin und lebte mit ihrem Partner und diversen Vierbeinern in einem winzigen Dorf zwischen Hamburg und Bremen. Die Verbundenheit zur Natur, sowie die Liebe zum Meer und der norddeutschen Lebensart bestimmten ihren Alltag...
Das Handy signalisierte mit einem Piepton den Eingang einer Textnachricht.
Guten Morgen, Sonnenschein.
Augenblicklich verzogen sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln.
„Guten Morgen, Herzbube“, tippte sie zurück. Irgendwie konnte sie es immer noch nicht fassen. Ausgerechnet das Flirtobjekt aller siebzehnjährigen weiblichen Wesen der Schule war zu ihrer großen Liebe geworden. Liebe, ja, das war das richtige Wort. Spätestens seit sie vorgestern zusammen geschlafen hatten, gehörten ihm ihr Herz und ihr Körper. Sie war so glücklich, dass es fast wehtat. Und jetzt freute sie sich wahnsinnig darauf, ihm sein Weihnachtsgeschenk...
...zu geben. Es war eine echte antiquarische Schallplatte mit einer Blues-Aufnahme aus New Orleans, die sie in einem Antiquitätengeschäft gefunden hatte.
Sie lief in ihr Zimmer und packte das teure Stück sorgfältig in dunkelblaues Geschenkpapier. Blau war Boris’ Lieblingsfarbe. Sie erinnerte ihn an das Meer, das er über alles liebte. Das war Lulus Glück, denn nur deshalb zog er es vor, bei seiner Tante und seinem Onkel in Lübeck zu wohnen, anstatt seiner Mutter oder seinem Vater in eine Weltstadt zu folgen. Würde er das Meer nicht lieben, hätten sie sich nie kennengelernt.
Pünktlich um 16.30 Uhr stieg Lulu auf ihr Rad. Die Heizung war tatsächlich noch zweimal ausgegangen. Beim zweiten Mal hatte sie sie nicht noch mal angestellt, da sie ja sowieso wegfuhr. Sie brauchte über die Feiertage keine Heizung. Außerdem herrschten in Norddeutschland statt Frost und winterlichem Schnee wieder mal vier Grad plus und Nieselregen; die Gefahr, dass Wasserleitungen einfrieren könnten, bestand also wirklich nicht.
Trotz des typisch norddeutschen Schmuddelwetters herrschte in der Stadt diese besondere Atmosphäre, die wohl nur am Heiligabend entsteht. Überall in den Fenstern blitzte Kerzenlicht und alle Läden waren geschlossen. Nur noch wenige Menschen liefen die Straßen entlang, die meisten feierten bereits im Kreise ihrer Familien den Heiligabend.
Beim Hotel angekommen, lehnte Lulu ihr Rad an den Zaun und schlüpfte durch die schmale Pforte zur Hinterseite. Sie klopfte an die Scheiben von Boris’ Appartement, wie sie es immer tat, wenn sie ihn besuchte. Doch die Gardinen waren zugezogen und er reagierte nicht. Also lief sie nach vorn und betrat das Hotel durch den Haupteingang.
An der Rezeption fragte sie nach Boris. Die junge, blonde Angestellte bat sie um einen Moment Geduld und ging zum Telefon. Während sie den Hörer am Ohr hatte, zog sie die Augenbrauen hoch und warf Lulu einen seltsamen Blick zu. In Lulus Brustkorb wurde es enger. Irgendwas stimmte nicht.
Die Rezeptionistin legte auf und kehrte zurück. „Herr Hansen lässt ausrichten, dass er weder heute noch irgendwann in der Zukunft Zeit für Sie hat.“
Lulu runzelte die Stirn. Was für ein Quatsch. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Entschuldigung, das muss ein Missverständnis sein, ich möchte zu Boris Hansen, nicht zu seinem Onkel.“
Die Frau nickte mit konstant neutraler Miene. „Das habe ich schon verstanden, und es war Boris Hansen, der Ihnen das ausrichten ließ.“
Irritiert hob Lulu die Hand. „Das kann nicht sein. Mein Name ist Ludmilla Parker. Ich bin mit Boris verabredet. Er erwartet mich.“
Die Frau atmete deutlich genervt aus und ein Ehepaar stellte sich halb hinter Lulu.
„Hören Sie“, sagte die blonde Ziege, „ich kann Ihnen nur weitergeben, was Herr Hansen, Boris Hansen, mir aufgetragen hat. Also gehen Sie jetzt bitte, damit ich mich um unsere Gäste kümmern kann.“
In Lulu brodelte der Zorn. Was bildete die dumme Kuh sich ein, so mit ihr zu reden? Mit zusammengepressten Lippen eilte sie hinaus. Vor dem Hotel zog sie das Handy aus der Tasche und schrieb eine Nachricht an ihn.
Die Tussi an der Rezeption sagt, du willst mich nicht sehen. Bitte komm und klär das auf.
Gespannt starrte sie auf das Display des Smartphones. Sie musste nicht lange warten, bis der Piepton seine Antwort ankündigte.
Kein Missverständnis. Geh nach Hause.
Fünf knappe Worte, und Lulu las sie immer wieder. Kein Missverständnis? Geh nach Hause? Was sollte das? Ihr Herz klopfte schneller. Das war doch total bescheuert!
Hektisch tippte sie: Was ist los? Musst du für deinen Onkel arbeiten? Soll ich später kommen?
Erneut dauerte es nicht lange, bis seine Antwort kam:
Nein. Geh. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.
Fassungslos und verwirrt blieb Lulu vor dem Hoteleingang stehen. Immer wieder starrte sie auf ihr Handy und durch die Glastür zurück zur Rezeption. Was war los? Was sollte das? Das war doch irre! Völlig unmöglich! Sie rief ihn an, aber er meldete sich nicht.
Entschlossen marschierte sie noch einmal zum Empfang des Hotels. „Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, dass ich warte. Ich gehe nicht, bevor ich nicht mit ihm gesprochen habe.“
Die Rezeptionistin verzog keine Miene, trat zum Telefon und wählte, sprach kurz, nickte und legte auf.
„Er kommt.“
Lulu presste die Lippen aufeinander. Als sie ihn mit dem Handy angerufen hatte, war er nicht rangegangen. Was hatte das zu bedeuten? Sie schluckte. Ganz ruhig bleiben. Es war natürlich ein Missverständnis. Gleich würde sich alles aufklären. Bestimmt hatte die blöde Tussi ihm einen falschen Namen gesagt. Fuck, er hatte aber an ihr Handy geschrieben, also kein Irrtum. Trotzdem. Es konnte nur ein Missverständnis sein, ja, verdammt, es musste ein blödes Missverständnis sein. Sie klammerte sich an dieses Wort wie an einen Rettungsring auf offener See.
Gleich würden sie reden, und dann wäre wieder alles gut.
Der Fahrstuhl kam mit einem Piepton zum Stehen, die Türen gingen auf und Boris trat heraus. Er trug das graue Kapuzenshirt, in das Lulu sich so gern kuschelte, wenn sie abends zusammen auf seiner Couch lagen. Ohne eine Miene zu verziehen, kam er auf sie zu, nickte der Tussi am Empfang kurz zu, packte Lulu am Arm und zog sie mit in Richtung Ausgang.
Wie ein unerzogenes Kind zerrte er sie mit. Sprachlos und durcheinander wehrte sie sich nicht. Er ließ sie erst los, als sie im Nieselregen auf der Straße standen. Seine Augen waren schmal, sein Gesichtsausdruck gelangweilt.
„Hör zu, Lulu, es war nett, es war lustig und jetzt ist es vorbei. Ich bin kein Typ für was Festes, das weißt du doch. Such dir einen anderen, um traute Zweisamkeit zu spielen.“
WIE BITTE? Eiskaltes Grauen ließ ihren Körper zittern. „Was redest du denn da?“, fragte sie heiser, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Boris! Was ist passiert?“
Er seufzte. „Du hast dir da anscheinend was eingebildet, Schätzchen, was nicht vorhanden ist. Sorry, ich hätte dich wohl von Anfang an etwas mehr auf Abstand halten müssen, damit du nicht auf dumme Ideen kommst. Ich habe heute keine Zeit für dich. Besuch, du verstehst, eine alte Freundin aus Hamburg. Geh nach Hause, Süße, es war nett und es hat Spaß gemacht, aber das war’s. Klar? Frohes Fest, Lulu.“
Er zeigte keine Gefühle; er redete mit ihr, als wäre sie ein dummes pubertierendes Mädchen, das ihn stalkte und eine klare Anweisung bräuchte, um zu kapieren, dass sie sich unmöglich benahm. Er wimmelte sie ab wie einen One-Night-Stand, der sich am nächsten Morgen nicht freiwillig verabschiedete. Das war so irreal, als ob plötzlich lila Schnee vom Himmel fallen würde.
„Boris? Was ist los mit dir? Wir haben doch … wir waren doch …“ Lulu konnte nicht weiterreden, ein dicker Kloß verstopfte ihre Kehle. Hilflos mit dem Kopf schüttelnd starrte sie ihn an. „Das kann doch nicht sein …“
Er zwinkerte. „Du hast bekommen, was du wolltest, ein gutes erstes Mal. Nun such dir einen anderen zum Weiterüben. Ich stehe mehr auf erfahrene Frauen, okay? Nichts für ungut, Babe. Ich muss wieder rein.“
Er tätschelte ihr die Wange, drehte sich um und lief immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch ins Hotel.
Lulus Blick verschwamm, ob von Tränen oder von den Regentropfen des zu allem Überfluss nun auch noch einsetzenden heftigen Dauerregens, wusste sie nicht. Wie in Trance tapste sie zu ihrem Fahrrad, setzte sich drauf und fuhr los. Ein Auto hupte, jemand fluchte laut und der Regen wurde zu Hagel. Lulu starrte auf den schwarzen Vorderreifen und den Boden, trat in die Pedale wie eine Maschine, rechts, links, rechts, links, bis sie vor ihrem Haus angekommen war. Sie schob das Fahrrad wie immer in den kleinen Schuppen im Garten und ging zur Haustür. Erst, als sie davorstand und klar war, dass sie einen Schlüssel brauchte, um hineinzukommen, begann ihr Verstand wieder zu arbeiten.
Sie suchte in allen verfügbaren Hosen- und Jackentaschen, fand aber keinen Schlüsselbund. Die Tüte mit dem Geschenk für Boris fiel auf den Boden, und Lulu beobachtete, wie Wassertropfen sich auf dem blauen Papier zu großen dunklen Flecken ausbreiteten. Die Handtasche! Sie hatte doch eine Handtasche dabeigehabt. Wo war die?
Die Tasche war weg, und Lulu war ganz allein. Die ersten harten Schluchzer drängten aus ihrem Mund und immer mehr folgten nach. Ihr Oberkörper bebte von Weinkrämpfen. Sie hatte die Tasche mit dem Schlüssel darin verloren. Es war Weihnachten, sie war durchnässt, ihr Freund hatte sie zum Teufel geschickt, ihre Familie war verreist und sie konnte nicht ins Haus.
Sie torkelte zurück in den Fahrradschuppen, lehnte sich an die Holzwand und rutschte auf den Fußboden. Das krampfartige Schluchzen wurde immer schlimmer und sie rollte sich wie ein Hund auf dem Boden zusammen.
Als sie endlich ruhiger wurde, war es stockdunkel. Sie fummelte das Handy aus der Jackentasche und sah drauf.
Gleich halb neun. Niemand hatte angerufen. Keine Textnachricht von Boris. Fuck. Natürlich nicht. Die Erkenntnis, dass die letzten Stunden weder Irrtum noch mieser Traum, kein Missverständnis, sondern nackte Realität gewesen waren, brannte in ihrem Brustkorb wie Salz in einer offenen Wunde.
Vor lauter Kälte und Nässe waren Lulus Glieder steif. Stöhnend richtete sie sich auf und sah sich um. Der Hausschlüssel. Die Tasche mit dem Schlüssel, die musste sie finden.
Sie suchte den Boden ab, den Weg, den sie das Rad entlanggeschoben hatte, doch die Tasche blieb verschwunden. Sie musste sich während der Fahrt vom Gepäckträger gelöst haben, oder sie lag am Zaun, an dem sie ihr Rad beim Hotel abgestellt hatte. Ja, das war am wahrscheinlichsten. Vermutlich war sie ihr einfach aus der Hand gerutscht, als sie völlig fertig losgefahren war.
Einen Moment lang überlegte sie, Lena oder eine andere Freundin anzurufen und um Hilfe zu bitten, aber das schien ihr keine gute Idee. Erstens war Heiligabend und alle saßen mit ihren Familien zusammen, und zweitens waren ihre Freundinnen, allen voran Lena, ja nicht mehr besonders nett gewesen, seit sie sich den begehrtesten Typen der Schule geschnappt hatte. Sie würden Lulu nur mit hämischer Schadenfreude begegnen und überall rumerzählen, was ihr ausgerechnet an Weihnachten passiert war.
Sie biss die Zähne zusammen, nahm das Rad und fuhr noch einmal los. Sie fror erbärmlich. Ihre Klamotten klebten bis auf die Unterwäsche feucht und klamm an der Haut. Während sie fuhr, suchten ihre Augen den Boden ab, um die Tasche zu finden, falls sie runtergefallen war.
Boris’ gemeine Worte fielen ihr wieder ein. Hatte sie sich so in ihm getäuscht? Eine Woche lang hatten sie sich jeden Tag gesehen. Hatte er ihr die intensiven Gefühle nur vorgegaukelt? Hatte sie nur wahrnehmen wollen, was ihr Herz begehrte? Hatte sie sich das zwischen ihnen nur eingebildet? Dass sie etwas Besonderes hatten? Dass sie sich liebten? Verdammt, nein, auf keinen Fall. Sie war doch nicht blöd. Er musste sie bewusst verarscht haben. Das war die einzig logische Erklärung. Er hatte ihr die ganze Zeit Gefühle vorgespielt, um sie ins Bett zu kriegen. Und nach dem Sex war sie für ihn uninteressant geworden. Vermutlich sahen Männer sportliche Herausforderungen darin, Frauen zu entjungfern.
Neue Tränen kullerten aus ihren sowieso schon geschwollenen Augen. Er hätte wenigstens vor Weihnachten Schluss machen können, anstatt sie zu sich einzuladen. Vermutlich hatte er von dem Besuch der Freundin nichts gewusst. Sie hatte ihn überrascht. Plötzlich leuchtete die Erkenntnis in ihrem Kopf so grell wie Neonlicht. Natürlich! Die Frau war seine feste Freundin, die nicht wusste, dass der Arsch in Lübeck mit einer anderen was angefangen hatte. Das war die einzig plausible Erklärung. Er hatte der anderen Treue geschworen, als er nach Lübeck gegangen war, und sie war ihn nun überraschend besuchen gekommen.
So ein fieser, kaltherziger Arsch. Ärgerlich wischte sie die Tränen mit dem Handrücken weg und trat kräftiger in die Pedale. Ihr allererster Eindruck, als er vor ein paar Wochen neu in die Klasse gekommen war, war anscheinend richtig gewesen. Gott, sie war so dumm. Sie war auf ihn reingefallen wie ein naives, pubertierendes Mädchen.
Die Tasche lag tatsächlich vor dem Hotel am Zaun auf dem Boden, wo sie das Rad abgestellt hatte. Sie war bestimmt heruntergefallen, als sie sie im Schockzustand gemeinsam mit dem Geschenk auf den Gepäckträger klemmen wollte.
Erleichtert griff sie danach und fuhr zurück zu ihrem Haus.
Vor der Haustür lag irgendwas. Sie sah näher hin, bevor sie aufschloss. Es war die Schallplatte. Inzwischen hatte sich das blaue Papier aufgelöst und das Cover schimmerte durch. Seufzend nahm sie das teure Geschenk mit rein und legte es in der Küche auf die Spüle, damit es dort trocknen konnte.
Im Haus war es dunkel und kalt. Lulu sehnte sich nach einer Dusche, aber es gab kein heißes Wasser. Natürlich nicht, die Heizung war ja aus.
Lulu versuchte, sie anzustellen, aber sie hatte kein Glück.
Es würde ein einsames Weihnachten vor einem Heizlüfter in ihrem Zimmer werden. Ohne Kerzen, ohne Menschen, ohne Freude, ohne Geschenke.
Nie wieder würde sie auf einen Mann reinfallen. Oh nein. Das hier war ihr eine Lehre. Eine gemeine, fiese und schmerzhafte Lehre, aber eine, die sie nie vergessen würde.