Carlotta Fabri war immer ein braves Mädchen und eine gehorsame Tochter. Doch als der Mafiaboss sie aus geschäftlichen Gründen mit dem Sohn seines größten Rivalen verheiraten will, flüchtet sie. Ein Jahr später ist aus Carlotta eine Anwältin geworden, die anderen Frauen hilft, wo immer sie kann. Ihr Leben in der Kleinstadt in Louisiana verläuft in geregelten Bahnen. Gerade als sie glaubt, ihre Vergangenheit endgültig hinter sich gelassen zu haben, erhält sie einen schockierenden Brief. Nicht lange danach geschieht ein erster Mord in Carlottas Umfeld.
Vincent Moretti sollte auf Carlotta aufpassen.
Stattdessen hat sie ihn, Söldner der Mafia und Mitglied der Biker-Gang "Shadow Riders", nach einer leidenschaftlichen Nacht ausgetrickst und verschwand aus der Stadt. Die Nacht mit der Tochter des Paten war nicht der einzige Fehler in Vincents Leben, aber der größte.
Jetzt befiehlt ihm ihr Vater, Carlotta aufzuspüren und in den Schoß der Familie zurückholen. Doch Vincent ist nicht der Einzige, der noch eine Rechnung mit Carlotta offen hat. Während er versucht, die Nacht mit ihr aus seinem Gedächtnis zu tilgen, hat ein anderer Carlotta längst im Visier.
Und dieser andere mordet, um ihr nahe zu sein ...
MC meets Romantic Thrill & Mafia Romance.
Es begann mit einem Pixibuch und führte über ein abgebrochenes Germanistikstudium in den Buchhandel. Dort verweilte Natalie Winter ein paar Jahre, bis sie sich als Texterin selbstständig machte. Der Auftrag, eine erotische Kurzgeschichte zu schreiben, entpuppte sich als Schritt in...
Drei Stunden später stand sie verschwitzt an der Bar und stieß ein letztes Mal mit Joanie an. Von Vincent war nichts zu sehen, aber sie meinte, seine Augen wie eine Berührung auf ihrem Körper zu fühlen. Sie hatte trotzdem getanzt wie eine Verrückte, ihr Kopf war leicht von dem einen Bier, das sie getrunken hatte, und sie fühlte sich zuversichtlich, was ihren neuen Plan betraf. Morgen um diese Zeit wäre sie frei von allen Zwängen. Tschüss, Zwangsehe! Auf Nimmerwiedersehen, durch Blutgeld finanziertes Luxusleben!
Hoffentlich verzieh ihr Joanie, dass sie auch ihr nichts von ihren Fluchtplänen gesagt...
...hatte. Sie wird sich Sorgen machen, dachte Carlotta und unterdrückte den Drang, ihrer Freundin in letzter Sekunde alles zu beichten. Nein, es war einfach nicht möglich. Je weniger Joanie wusste, desto besser war es für sie. Carlottas Vater kannte keine Skrupel und würde auch bei Joanie keine Samthandschuhe anziehen, aber sicher würde er sofort erkennen, dass Joanie nicht den blassesten Schimmer hatte, wohin Carlotta verschwunden war. Mit etwas Glück würden sie alle für tot halten.
Carlotta seufzte. Wenn sie ehrlich war, brauchte sie mehr als nur ein bisschen Glück, damit der Plan gelang. Zuerst hatte sie überlegt, sich eine Leiche zu beschaffen, die ihr vom Aussehen und vom Gewicht her glich, den Wagen in Brand zu setzen und auf diese Weise sicherzustellen, dass Carlotta Fabri in den Flammen starb. Diesen Plan hatte sie schnell wieder verworfen. Vor hundert Jahren wäre sie damit durchgekommen, aber in Zeiten von DNA-Analysen und akribischer Spurensicherung am Tatort verbot sich diese Methode von selbst. Außerdem drängte die Zeit. Auf eine Tote zu warten, die niemand vermisste und die ihren Platz einnehmen könnte, dauerte zu lange. Außerdem hätte sie für dieses Unternehmen professionelle Hilfe gebraucht. Der Austausch von Zahnarztunterlagen wäre nur der Anfang eines komplizierten Prozesses gewesen, der Geld, Zeit und Ressourcen verschlang. Und Zeit hatte Carlotta am allerwenigsten. Ihr Vater würde jeden verfügbaren Mann einsetzen, um ihren Mörder zu finden. Auch die Polizei würde ermitteln, ausnahmsweise mit Billigung ihres Vaters, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass seine eigenen Leute versagten. Er kannte keine Skrupel und würde erst recht keine entwickeln, wenn er den Menschen suchte, der vermeintlich seine Tochter umgebracht hatte. Das Leben eines Unschuldigen, den es zwangläufig treffen würde, zu gefährden, kam für Carlotta nicht infrage. Also hatte sie ihrem Vater eine Nachricht dagelassen, in der sie erklärte, dass sie mit ihm und der Famiglia nichts mehr zu tun haben wolle und dass er sie nicht suchen solle. Den Nachsatz, dass er sie nicht finden würde, hatte sie sich nicht verkneifen können.
Es ist besser so, sagte sie sich zum tausendsten Mal.
„Hey, was ist denn?“ Joanie hielt sie auf Armeslänge von sich. Die Bar war weit genug von der Tanzfläche entfernt, dass sie sich halbwegs normal unterhalten konnten. „Ist es doch die Hochzeit?“ Sie legte den Kopf schief, und es kostete Carlotta all ihre Kraft, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen. „Wenn du es dir anders überlegst und diesen Bellini-Typen nicht heiraten willst, kannst du jederzeit bei mir Unterschlupf suchen.“
Klar. Damit keine Stunde später die Männer ihres Vaters und ihres Verlobten auftauchten, um Kleinholz aus Joanies Wohnung zu machen und Schlimmeres. Ihr selbst würde nichts geschehen, aber Joanie galt nicht als unantastbar. Sie wünschte sich, sie hätte ihre Freundin irgendwie von all dem Mafia-Dreck fernhalten können. Jetzt war es zu spät.
„Ach, das ist halb so dramatisch“, gab sie also zurück und bemühte sich, fröhlich zu klingen. „Ich meine, ein Mann ist eh wie der andere, das sagst du doch immer.“ Sie bog den Oberkörper zur Seite, um nicht von einem Schwall verschütteten Bieres getroffen zu werden, und sandte dem betrunkenen Typen einen finsteren Blick nach.
Keine drei Sekunden später tauchte Vincent auf und sagte ein paar Worte zu dem Mann, die anscheinend sogar durch den alkoholbedingten Nebel in sein Hirn drangen, denn er zog die Schultern hoch und murmelte etwas, bevor er auf unsicheren Beinen das Weite suchte.
Vincent schaute sie an, hob die rechte Hand und spreizte die Finger. Fünf Minuten, sagte seine Geste.
Carlotta nickte und verfolgte mit den Augen, wie er in der Menge verschwand.
Joanie gab ihr Lächeln zurück. „Das stimmt, aber im Gegensatz zu dir habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und rief dem Barkeeper etwas zu, was Carlotta nicht verstand.
Kurze Zeit später reichte ihr Joanie ein Glas Champagner. „Auf uns“, sagte sie. „Darauf, dass kein Mann es schaffen wird, uns zu trennen.“
Carlottas Magen zog sich zusammen, als sie mit ihrer Freundin anstieß. Oh Gott. Wie konnte sie verschwinden, ohne ihre beste Freundin einzuweihen? Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus.
Joanies Augen wanderten fragend über ihr Gesicht, als etwas hinter Carlotta ihr Interesse erregte. Sie spähte über Carlottas Schulter. „Da kommt dein Bodyguard und er hat einen ziemlich heißen Typen im Schlepptau. Er ist doch nicht etwa vom anderen Ufer?“
Nicht, wenn der Blick, mit dem er ihr in den Ausschnitt gestarrt hatte, echt gewesen war. Sie drehte den Kopf, um zu sehen, wen Vincent getroffen hatte. Zuerst dachte sie, es wären die Bässe, die in ihrem Körper wummerten, aber dann erkannte sie, dass es ihr eigenes Herz war, das so dröhnte. Gabriel. Oh nein. Das hatte ihr noch gefehlt.
Erst in dieser Sekunde wurde Carlotta klar, dass Joanie von Gabriel gesprochen hatte, als sie den „heißen Typen“ erwähnte. „Das ist Gabriel Bellini“, flüsterte sie ihrer Freundin zu und merkte, wie sich der schmale Körper Joanies versteifte. „Alles gut“, sagte sie beruhigend „Du weißt ja, mir liegt nichts an ihm.“
Bevor sie weitersprechen konnte, war Gabriel auch schon bei ihnen. Zu allem Überfluss hatte er seine übliche Entourage bei sich. Tat er jemals etwas ohne Marc und Santo? Gabriels Bodyguards blieben auf Distanz zu ihnen, ebenso wie Vincent, der ihnen kalt zunickte. Wahrscheinlich hielt sich jeder der drei Männer für einen Ausbund an Diskretion und Takt, weil sie Gabriel und Carlotta ein wenig Privatsphäre gönnten, auf die sie im Übrigen gut hätte verzichten können. Genau wie auf ihre und Gabriels Anwesenheit. Das Risiko, es nicht rechtzeitig aus dem Club zu schaffen, wurde von Stunde zu Stunde größer.
„Was machst du denn hier?“, begrüßte sie Gabriel nicht gerade freundlich. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Vincent und Gabriels Verstärkung näherkamen. Carlotta mochte die beiden Bodyguards aus dem Bellini-Clan nicht, und das war noch untertrieben. Wann immer sie die Männer sah, lief ihr ein Schauer das Rückgrat herab. Beide waren, selbst unter den nicht gerade zimperlichen Männern ihres Vaters, für ihre Brutalität berüchtigt und hatten Jugendstrafen wegen Vergewaltigung abgesessen. „Ich habe dich nicht erwartet.“ Es kam ziemlich kühl heraus, das merkte Carlotta selbst. Sie bemerkte auch, dass Vincent bereits in Hörweite war, aber es war zu spät, um ihre Stimme zu dämpfen.
Blitzte da in Vincents Augen etwas wie Zufriedenheit auf?
Schnell gab sie ihrem Verlobten einen Kuss auf die Wange und setzte nach: „Das ist mein Junggesellinnenabschied, hast du das etwa vergessen? Jungs sind hier nicht erlaubt.“
„Und was ist mit ihm?“ Gabriel umfasste besitzergreifend ihre Taille und deutete auf ihren Bodyguard.
„Er zählt nicht“, gab Carlotta zurück. Sie sah Vincent nicht an und ignorierte ihr pochendes kleines Herz. Gabriel schien von ihrer Befangenheit nichts zu merken, denn er bedachte Joanie mit seinem strahlendsten Lächeln. „Und das ist Joanie, nehme ich an.“
Carlotta besann sich auf ihre Manieren. „Gabriel, darf ich dir Joanie Flemming vorstellen?“ Sie wand sich unauffällig aus seinem Griff und trat näher an ihre Freundin heran. „Joanie, das ist Gabriel Bellini, der Mann, den ich nächste Woche heiraten werde.“
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Marc und Santo sich zurückgezogen hatten. Gut, denn die Vorstellung, Joanie mit den beiden bekannt zu machen, war keine angenehme. Carlotta konnte sie nicht von den Männern ihres Vaters fernhalten – nicht, wenn sie zumindest die Illusion einer normalen Freundschaft mit Joanie aufrechterhalten wollte – aber sie würde Joanie nicht Marc und Santo vorstellen, als wären sie auf einer Cocktailparty. Ja, ihre Freundin stand auf Bad Boys, doch die beiden waren eine Nummer zu heftig für Joanie. Für jede Frau. Santo und Marc waren keine schlimmen Jungs, sondern richtig üble Kerle. Santo hatte bereits begonnen, Joanie auf eine Art zu taxieren, die dafür sorgte, dass es Carlotta kalt den Rücken herunterlief. Sie drehte sich kurz um und schob sich in sein Blickfeld, denn jede explizite Warnung, die sie ihm und Marc zukommen ließ, würde sein Interesse an Joanie nur vertiefen.
Sie bemühte sich, eine freudige Miene aufzusetzen, die ihr wahrscheinlich vollkommen misslang. Nun ja, Gabriel wusste, dass sie nicht gerade darauf brannte, seine Frau zu werden. Auch ihm lag, soweit Carlotta das beurteilen konnte, nicht viel an einer Ehe mit ihr. Höchstens am Sex und auch nur dann, wenn sie sich wehrte. Aber anders als sie beugte er sich dem Befehl seines Vaters, weil er dessen Nachfolge antreten wollte. Massimo Bellini regierte den Clan mit eiserner Hand, und sie vermutete, dass Gabriel eine gehörige Portion des väterlichen Ehrgeizes geerbt hatte.
Gabriel beugte sich zu Joanie und küsste ihr die Hand. In einem Club wie dem Caprice war die Geste so fehl am Platz, wie sie nur sein konnte, aber Carlotta sah, wie Joanies Augen entzückt aufleuchteten, als Gabriels Lippen ihren Handrücken streiften. Wurde sie etwa rot? Oh ja, Gabriel konnte sehr charmant sein, wenn er es darauf anlegte. Carlotta verstand auch, warum ihre Freundin ihn als heißen Typen bezeichnet hatte, selbst wenn seine maskuline Schönheit sie selbst kaltließ. Dunkles, leicht gewelltes Haar, blaue Augen unter dichten schwarzen Wimpern sowie ein starkes und zugleich empfindsames Gesicht machten ihn für die meisten Frauen unwiderstehlich.
Vincents Züge wirkten dagegen, als hätte ein Bildhauer mitten in seinem Werk die Geduld verloren. Der harte Kiefer und das Kinn mit der tiefen Kerbe waren von einem Anflug von dunklem Bartschatten bedeckt. Seine Nase sprang nicht nur deutlich aus seinem Gesicht hervor wie eine angriffslustige … hm, was auch immer, sondern sah aus, als wäre sie mindestens einmal gebrochen gewesen. Das beherrschende Merkmal war jedoch die Narbe, die sich vom Mundwinkel hoch über einen der Wangenknochen zog und seinen Augenwinkel streifte. Carlotta hatte sich oft gefragt, woher sie stammte, sich aber nie getraut zu fragen. Etwas an Vincent, seiner Haltung und der Angewohnheit, dem Betrachter immer die Gesichtshälfte mit der Narbe zuzuwenden, erstickte jeden Anflug von Neugierde im Keim.
Gabriels Stimme drängte sich in ihr Bewusstsein, als er sie und Joanie fragte, ob er ihnen etwas zu trinken spendieren dürfte.
Carlotta hob ihr Glas zum Zeichen, dass sie nichts brauchte, während ihre Freundin ihn um einen weiteren Champagnercocktail bat. Vincents Gegenwart ignorierte Gabriel oder gab zumindest vor, es zu tun. Auf verdrehte Art schämte sie sich für Gabriel, auch wenn sie wusste, woher diese Arroganz gegenüber Vincent kam. Seine Einmischung an jenem unglückseligen Abend, als sie sich von Gabriel hatte anfassen lassen, war eine Sache. Jeder, der in einer Mafiafamilie großgeworden war, kannte die Regeln: Es war Vincents Pflicht gegenüber dem Oberhaupt, die Ehre der Familie zu beschützen, und dazu gehörte eben auch, die Tochter von allem fernzuhalten, was verboten war. So unzeitgemäß diese Haltung war, Sex fiel eindeutig darunter.
Gabriel, der sich für ein Gottesgeschenk an die Frauenwelt hielt und der in seiner Meinung wohl oft genug bestärkt wurde, war wegen der Unterbrechung verdammt sauer auf Vincent gewesen. Vermutlich hatte sie sich ihre Erleichterung zu deutlich anmerken lassen und seinem Ego einen weiteren Schlag versetzt, was er Vincent noch viel weniger verzieh.
Die Erinnerung daran, wie Vincent sie beobachtet hatte, war fest in ihr Gedächtnis eingebrannt. Carlotta hatte versucht, seinen Gesichtsausdruck zu vergessen, denn da war mehr gewesen als Wut, aber das hatte sie damals nicht erkannt. Jetzt kam ihr Vincents Verlangen nach der verbotenen Frucht äußerst gelegen, doch das machte es nicht einfacher. Oder besser.
Wie auch immer, es wurde Zeit, dass sie sich verabschiedete. Je länger sie blieb, desto schwieriger wurde es. Außerdem ging ihr Zug in Richtung Freiheit in zwei Stunden. Wenn sie wirklich ein neues Leben fern von ihrem Vater anfangen wollte, durfte sie nicht zögern.
„Ich bin müde“, sagte sie also. „Es wird Zeit, dass Vincent mich nach Hause bringt.“ Sie schaute ihn nicht an, fühlte jedoch, dass er hinter sie trat wie ein drohender Schatten, der sich mit ihrem verband. „Warum trinkt ihr zwei nicht noch etwas miteinander und macht euch besser bekannt? Meine beste Freundin und der Mann, den ich heiraten werde, sollten einander kennen, finde ich.“ Sie lächelte erst Joanie, dann Gabriel an. Ihre Freundin hatte den Gesichtsausdruck eines Kaninchens, das sich Auge in Auge mit einer Schlange wiederfand und sich paradoxerweise nichts mehr wünschte, als dass die Schlange endlich zubiss. Carlotta kannte diesen Blick. Joanie setzte ihn immer dann auf, wenn sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass der Mann, den sie gerade kennenlernte, nicht gut für sie war. Was sie noch nie daran gehindert hatte, trotzdem wie eine reife Frucht in dessen Arme (und Bett) zu fallen.
„Warum nicht“, sagte Gabriel und erwiderte ihr Lächeln, bevor er sich ihrer Freundin zuwandte. „Was soll es für dich sein? Ich darf doch Du sagen, oder?“
Himmel, manchmal kam es ihr vor, als wären die ganzen Clans im letzten Jahrhundert stecken geblieben. All das Gerede von Ehre, die Religiosität und die Unterteilung von weiblichen Wesen in Ehefrauen, Mütter oder Schlampen stieß ihr von Mal zu Mal mehr auf.
Eines musste sie noch klarstellen, bevor sie ging. Carlotta trat zu Gabriel und schob eine Brünette in einem engen pinkfarbenen Kleid zur Seite, die im Laufe der letzten Minuten versucht hatte, seine Aufmerksamkeit zu wecken. Carlotta stellte sich auf die Zehenspitzen und sprach in sein Ohr. „Halt deine beiden Gorillas von meiner Freundin fern, ja? Ich verlasse mich auf dich. Ich will nicht, dass sie Joanie etwas antun.“
Gabriel runzelte die Stirn. „Mach dir keine Sorgen, ich passe auf, dass deine Freundin sicher nach Hause kommt. Aber meinst du nicht, du könntest vielleicht ein klein wenig Eifersucht zeigen, weil ich mich um sie kümmere?“
Eine Sekunde lang glaubte Carlotta, dass er es ernst meinte. Dann sah sie das Glitzern in seinen blauen Augen und atmete erleichtert aus. „Ich weiß doch, dass du mich nicht liebst, Gabriel.“ Sie gab ihm noch einen raschen Kuss. Es war ein Dankeschön und gleichzeitig ein Abschiedskuss. „Du musst meinetwegen nicht so tun, als wärst du in mich verliebt. Und was mich angeht … ich missgönne dir dein Vergnügen nicht. Hauptsache, meiner Freundin passiert nichts.“
Wenn es nach Carlotta ging, sollten die beiden ruhig ihren Spaß miteinander haben. Es war sogar möglich, dass Joanie nach ihrem Verschwinden bei Gabriel Trost fand, zumindest für eine Weile.
„Mach dir keine Sorgen“, erwiderte Gabriel jetzt und küsste sie auf die Nasenspitze. Das war neu. Er nutzte zwar jede sich bietende Gelegenheit, um sie als seinen Besitz zu markieren, aber diese fast zärtliche Geste überraschte und rührte sie. Noch einer, dem sie wehtat, indem sie ohne Vorwarnung aus Houston verschwand. „Ich kümmere mich um deine Freundin.“
„Danke.“ Carlotta drehte sich zu Joanie um.
„Bist du sicher?“, fragte Joanie jetzt und schlang die Arme um Carlottas Hals, sodass sie ihr ins Ohr flüstern konnte.
Carlotta wusste sofort, was ihre Freundin meinte. „Absolut“, antwortete sie und legte all ihre Liebe für Joanie in ihre Stimme. „Ich wünsche dir viel Vergnügen mit Gabriel. Ich habe gehört, er soll phänomenal im Bett sein.“ Okay, das hatte sie erfunden, um Joanie die Entscheidung ein wenig leichter zu machen. Sie war sich ebenso wie ihre Freundin des Blicks bewusst, mit dem Gabriel Joanie ansah. „Auf Wiedersehen“, sagte sie und konnte sich gerade noch rechtzeitig umdrehen, damit die beiden die Tränen in ihren Augen bemerkten.
Vincent
Verfluchter Mist. Sah sie denn nicht, was für ein mieser Aufreißer Bellini war?
Vincent verstand nicht, was eine Frau wie Carlotta mit einem Typen wie diesem aalglatten, geschniegelten Widerling wollte. Klar, die Verbindung der beiden war eine Zweckheirat, aber warum ließ sich eine Frau wie sie von ihrem baldigen Ehemann auch noch öffentlich vorführen und erniedrigen? Und was diese angebliche Freundin betraf …
„Vincent, können wir bitte fahren? Mir ist kalt.“
Wie lang hatte er hier am Wagen gestanden und ins Nichts gestarrt? Lang genug auf jeden Fall, dass Carlotta in dem dünnen Kleid zitterte. Bevor er darüber nachdenken konnte, was er tat, streifte er seine Lederjacke ab und legte sie ihr über die schmalen Schultern.
„Besser?“ Es war eine Herausforderung, in ihrer Gegenwart einen ganzen Satz zu sprechen, doch beim zweiten Anlauf gelang es ihm. „Warum heiratest du diesen Idioten?“
Er erkannte trotz der Dunkelheit, wie sich ihre Augen weiteten. Sie zitterte immer noch, also öffnete er die Wagentür und beobachtete, wie sie sich – diesmal völlig ungraziös – in den Ledersitz fallen ließ, ohne ihm eine Antwort zu geben. Auch gut. Es war nicht sein Problem, dass sie ihr Leben wegwarf.
Mit einer abrupten Bewegung startete er den Wagen. Aus den Augenwinkeln sah Vincent, wie Carlotta sich in seine Jacke schmiegte und den Kopf an die Scheibe lehnte. Seine Finger krampften sich um das Lenkrad.
Was war nur los mit ihm?
Es wäre ja noch okay, wenn auch befremdlich gewesen, die Tochter des Paten schlicht und einfach flachlegen zu wollen. Damit hätte er umgehen können. Das war kein Problem für Vincent; Sex war für ihn etwas, das man benutzte, um ein Bedürfnis zu stillen. Er aß, wenn er hungrig war, er trank, wenn er durstig war. Und wenn er Sex wollte, gab es genügend Frauen, die sich von der Narbe in seinem Gesicht nicht abturnen ließen. Danach war er für eine Weile zufrieden. Nicht glücklich, aber wer war das schon? Es genügte, damit die Leere in der Brust wenigstens für eine kurze Stunde nachließ. Carlotta jedoch … er musste sich in Acht nehmen.
Er hatte einen Job zu erledigen.
„Ich weiß, was du denkst“, unterbrach sie seine Gedanken.
„Das glaube ich nicht.“ Stur sah er geradeaus. So eilig er es gerade gehabt hatte, den Club zu verlassen, so wenig zog es ihn jetzt zurück zu Fabris protziger Villa. Ungewollte Bilder stiegen in seinem Kopf auf. Carlotta, die auf der weichen Erde lag und willig die Beine spreizte, ihr rotes Haar wie ein blutiger Fächer auf dem grünen Gras ausgebreitet. Wie sie sich an ihn klammerte und lustvolle Laute ausstieß. Sie beide auf seiner Maschine, ihre Hände um seine Mitte geklammert, während sie wegfuhren, irgendwohin, nur fort von ihrem Vater und der Famiglia. Carlotta auf dem Bauch liegend, den prallen Hintern in die Luft gestreckt, wie sie ihn in mit ihrer rauchigen Altstimme anflehte, endlich kommen zu dürfen.
„Du verachtest mich.“ Ihre dünne Stimme, so ganz anders als die in seiner Fantasie, schnitt sein Herz in viele kleine Teile.
„Warum sollte ich das tun?“ Er nahm den Fuß vom Gas. Jetzt fehlte nicht mehr viel und sie krochen im Schritttempo durch die Nacht.
Sie kreuzte die Beine. „Ich weiß es nicht. Sag du es mir.“
Ein Anflug von Trotz. Das war gut. Alles war besser als diese resignierte Traurigkeit.
„Weil du kein Rückgrat hast?“ Er blendete ab, weil ihnen auf der einsamen Straße ein Wagen entgegenkam. „Weil du andere über dein Leben bestimmen lässt? Oder gibt es noch weitere Gründe, warum ich dich verabscheuen sollte?“
Carlotta atmete scharf ein. „Du weißt nichts über mich.“
Vincent bremste und fuhr rechts ran. In aller Ruhe brachte er den Wagen zum Stehen, drehte den Zündschlüssel herum und hörte, wie der Motor erstarb.
Sie war blass geworden. In ihrer Halsbeuge flatterte ihr Puls wie ein gefangenes Vögelchen. „Was machst du denn?“
„Ich weiß also nichts über dich“, wiederholte er ihre Worte und lehnte sich zurück. Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern und tat nichts, um seinen Zorn zu kaschieren. „Es stimmt. Ich habe keine Ahnung, was dein Leibgericht ist. Ich kenne den Titel deines Lieblingsfilms nicht, ich weiß nicht, ob du lieber Liebesromane liest oder Thriller.“ Er machte eine Pause und gab ihr Gelegenheit, sich gegen den ätzenden Tonfall seiner Worte zur Wehr zu setzen, doch da kam nichts. Mit großen Augen starrte sie ihn an, als wäre er ein Gespenst. „Ich weiß, dass du am liebsten Schwarz trägst. Dein Lieblingsparfüm ist All About Eve. Du liebst Tiere, ganz besonders Hunde, am meisten Collies. Du verabscheust Grausamkeit und kannst kein Blut sehen. Du hast Angst, wie deine Mutter zu enden, und tust trotzdem nichts, um das zu verhindern. Du bist klug und schön und sehr, sehr dumm.“
„Das … woher weißt du von meiner Mutter?“, flüsterte sie heiser. Es schien sie nicht zu kümmern, dass er ihre Intelligenz infrage stellte, ja, sie ging nicht einmal darauf ein, dass er sich in seinem letzten Satz selbst widersprach.
Vincent zuckte die Achseln. „Die Männer reden.“
„Du bist ein Arschloch und du weißt nichts über mich und erst recht nichts über meine Mutter.“ Carlotta richtete sich auf. Einen Augenblick lang sah sie ihn beinahe abschätzig an, dann löste sie den Sicherheitsgurt, stieß die die Tür auf und sprang leichtfüßig aus dem Wagen. Sie rannte einfach drauflos, ohne nach rechts und links zu schauen. Sie stolperte nicht, aber in ihren hohen Hacken war sie nicht besonders schnell.
Vincent öffnete die Fahrertür und machte sich daran, Carlotta zu folgen. Obwohl er sich Zeit ließ, konnte er bereits erkennen, dass ihre Schultern bebten. Der Mond trat hinter den Wolken hervor und ließ ihr Haar sekundenlang blutrot aufleuchten.
Ein Teil von ihm wollte nicht, dass der Spaß schon so schnell vorbei war. Das größte Vergnügen beim Jagen war für ihn nicht der Moment, in dem er seine Beute stellte, sondern die Minuten vorher, wenn die Angst vor dem Unausweichlichen mit der Hoffnung kollidierte, doch noch entkommen zu können.
Er streckte gerade die Hand aus, um sie an der Schulter zu packen, als sie stehen blieb und sich mit einem wilden Gesichtsausdruck umdrehte. Sie stieß einen Laut aus, der halb Angstschrei, halb Seufzer war. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem dünnen Kleid. Sein ausgestreckter Arm streifte ihre Schulter. Etwas Dunkles in ihm explodierte und setzte sein Denken außer Kraft, als sie sich ihm mit einer Verzweiflung entgegenwarf, die nicht gespielt war. Sein Mund traf ihre weichen Lippen. Sie biss ihn, zerrte an seinem Hemd. In seinem Hirn war gerade noch genug Vernunft, dass er ihr Kleid nicht zerriss, sondern es über ihren Kopf streifte.
Das ist ein Fehler, hämmerte es wieder und wieder in seinen Gedanken, bis ihre Finger endlich den Knopf an seiner Hose fanden, ihn fast gewaltsam aus dem Knopfloch rissen und den Reißverschluss nach unten zogen. Mit abgehackten Bewegungen zog er seine Jeans, Schuhe und Socken aus, bevor er nach seiner Jacke tastete, die irgendwo neben ihr zu Boden gefallen war, und sie auf dem Gras ausbreitete. Sie war nackt bis auf ihren Slip, ein durchsichtiges Ding, nicht einmal annähernd so groß wie ein Taschentuch. Wie konnte sie nur so verdammt erregend aussehen und trotzdem den Drang in ihm wecken, sie in die Arme zu nehmen und zu beschützen?
Er sah, dass sie zitterte. Ihre angstvoll geweiteten Augen fixierten sein Gesicht. Wovor fürchtete sie sich? Vor ihm? Sie hatte ihn geküsst, nicht umgekehrt! Er brauchte drei verdammte Herzschläge, bis seine Zunge ihm halbwegs gehorchte.
„Es tut mir leid.“ Er schluckte und zwang sich, weiterzusprechen. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich habe vergessen, wer du bist und wer ich bin.“
Ihr Gesicht veränderte sich, wurde weich und begann förmlich zu leuchten. Ihre Antwort bestand darin, sich auf die Wiese zu knien, nach hinten fallen zu lassen und das zu tun, wovon er seit Monaten träumte: Sie spreizte die Beine und streckte die Arme nach ihm aus.
„Komm“, sagte Carlotta einfach und sah auf einmal nur noch ein bisschen ängstlich aus.
Es war keine Furcht vor ihm, vor seinem entstellten Gesicht oder seinem harten Schwanz, der fordernd aufragte, sondern eher … Wieder verlor er die Fähigkeit zu denken, als er sich zwischen ihre Beine kniete und ihr den schwarzen, durchsichtigen Stoff abstreifte. Er atmete in tiefen Zügen. Ihre Pussy war glatt rasiert, wie er es liebte. Er beugte sich hinunter und leckte ein Mal mit der Zunge über ihre Schamlippen. Carlotta reagierte unmittelbar: Sie bog den Rücken durch und gab ein leises Stöhnen, fast schon ein Wimmern, von sich. Ihre Beine zitterten heftig. Und auf einmal war alles ganz leicht.
„Keine Angst“, sagte er und merkte, dass es eher wie ein Knurren herauskam. „Du musst keine Angst haben“, brachte Vincent endlich einen vollständigen Satz heraus. „Das bleibt unser Geheimnis. Ein Mal und dann nie wieder.“ Wenn er Glück hatte, war er das Verlangen nach ihr los, sobald er sie ein Mal unter sich gespürt hatte.
„Ein Mal und nie wieder“, bekräftigte sie den Pakt und hörte endlich auf zu zittern.