Immer wieder hat Nola erotische Träume von einem Mann und wacht danach mit Kratzern am ganzen Körper auf. Der Werwolf Maksym Derenski erfährt von Nolas Träumen und hat den Verdacht, dass sein Feind Rhodry Monroe, Anführer der schottischen Werwölfe, hinter den Träumen steckt. Maksym heftet sich an Nolas Fersen, um über sie Rhodry ausfindig zu machen.
Die immer drängender werdenden Träume ziehen Nola nach Schottland, nach Shavick Castle, dem Stammsitz der Monroes. Dort angekommen, wird sie von Rhodry in die Vergangenheit, in das Jahr 1818, gezogen, da sie seine Seelenpartnerin ist und er nur durch sie befreit werden kann.
Rhodry und Nola schweben in großer Gefahr, denn Maksym und seine Häscher wollen Rhodry und seinen Clan sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit vernichten ...
Isabell Alberti ist Jahrgang 1967 und stammt aus Norddeutschland. Seit zehn Jahren lebt und arbeitet sie in Sachsen. Bereits seit ihrer Kindheit schreibt sie, begonnen hat Isabell Alberti mit Theaterstücken, die sie in Schulhefte schrieb. Sie wurden leider nie fertig...
Rhodry hatte sein Versprechen nicht gehalten. Vier Tage waren seit ihrem Gespräch vergangen, und sie waren nicht ausgeritten, nicht ans Meer gereist, sie hatten die Burg nicht einmal verlassen und sich kaum gesehen. Rhodry schob Rudelangelegenheiten vor und verschwand mit Eugene und anderen Werwölfen in geheimen Kammern der Burg. Er schloss sie aus seinem Leben aus. Wenn das das Wesen der Seelenpartnerschaft war …
Sie war seit Tagen wütend auf ihn, und heute hatte sie genug. Wenn er keine Lust auf ihre Gesellschaft hatte, würde sie sich eben eine Beschäftigung suchen; jedenfalls würde sie sich nicht länger...
...auf Shavick Castle gefangenhalten lassen.
Sie ging in die Ställe und sprach einen Stallburschen an. Es war derjenige, den sie bereits in der Küche beim Suppe essen gesehen hatte. »Ich würde heute gerne ausreiten, sattel mir bitte ein Pferd. Ein Braves, ich bin etwas aus der Übung. Ich reite übrigens wie die Herren, nicht im Damensattel.«
Nola trug eine Hose und Stiefel, die ihre Zofe Jane ihr nach langem Beknien besorgt hatte. Das Mädchen war zwar nicht um ihre Sicherheit, aber um ihren guten Ruf als Lady besorgt gewesen – für eine solche gehörte es sich einfach nicht, sich in Herrenkleidung zu zeigen. Mehrere Tage hatte sie sich schlicht geweigert, aber heute Morgen hatte sie die Sachen wortlos auf Nolas Bett gelegt.
Der Bursche schaute sie mit offenem Mund an, war jedoch zum Glück nicht wie Jane, sondern fasste sich rasch wieder, ging zu einer Box und öffnete sie. Ein hübscher Dunkelfuchs stand darin. »Gebt mir ein paar Minuten, Mylady. Ich bringe die Stute dann in den Hof.«
Nola verließ den Stall wieder und wartete draußen auf den Stallknecht. Sie hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen, die heute ausnahmsweise einmal zwischen den Wolken hervorlugte. Schließlich brachte der Bursche den Dunkelfuchs und führte außerdem noch einen schlanken Braunen am Zügel.
»Ich begleite Euch, Mylady. Es schickt sich nicht, dass eine vornehme Lady allein ausreitet, ohne ihren Groom.« Er half ihr in den Sattel und stieg selbst auf den Braunen.
Im Schritt ritten sie vom Hof und die Auffahrt hinunter. An deren Ende wendete sich Nola Richtung See, von wo ein Weg in die Berge zu führen schien. Die Stute gehorchte willig ihren Hilfen.
Als Nola sich zum Reitknecht umdrehte, der sich immer eine Pferdelänge hinter ihr hielt, sah sie, dass Eugene ihnen von der Burg aus nachblickte. Sie ignorierte es und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Stalljungen zu.
»Wohin führt dieser Weg?«, fragte sie. »Und wie heißt du überhaupt?«
»Edward. Ihr könnt mich aber auch Teddy nennen, das machen alle. Der Weg führt zu einem Steinkreis, in dem nachts die Geister umgehen.«
»Ein Steinkreis? Das klingt aufregend. Jetzt ist es ja nicht Nacht. Lass uns hinreiten, Teddy!« Sie trieb ihre Stute zu einem leichten Trab an. Die Gangart war ungewohnt, und am Anfang wurde Nola kräftig durchgeschüttelt, bis sie den richtigen Rhythmus gefunden hatte. Sie vertraute der braven Stute nach Kurzem so sehr, dass sie schließlich sogar einen Galopp wagte.
Teddy setzte sich mit dem Braunen neben sie und leitete sie zum Steinkreis. Dieser lag auf einem Hügel. Soweit Nola von unten erkennen konnte, waren mehrere Steine umgestürzt, einige standen noch. Nola zügelte ihr Pferd, und bevor Teddy ihr helfen konnte, war sie schon aus dem Sattel gesprungen.
»Mylady!«
»Den Steinkreis will ich mir aus der Nähe anschauen. Bitte warte mit den Pferden hier auf mich.«
Antonia und Ludmilla waren im »Fat Cat Inn« zurückgeblieben, während Maksym mit Igor, Pjotr und Andrej nach Shavick Castle aufgebrochen war. Gestern hatten sie die Burg aus sicherer Entfernung beobachtet. Es waren einige Werwölfe angekommen - wahrscheinlich hatten sie dieselbe Einladung erhalten wie Ianthe. Sonst hatten sie nichts Außergewöhnliches entdeckt, vor allen Dingen Rhodry Monroe nicht zu Gesicht bekommen.
Maksym hatte seine drei Leibwächter auch heute wieder ausgeschickt, Shavick Castle zu beobachten, während er selbst die Umgebung erkunden wollte. Igors Einwände, dass er dann ohne Schutz wäre, hatte er beiseite gewischt. Jetzt lehnte er an einem aufrecht stehenden Stein in der Mitte eines Steinkreises und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Sie stieg höher, schaffte es aber nicht, den Tag zu erwärmen. Dafür fesselte eine Bewegung am Fuß des Hügels seine Aufmerksamkeit. Jemand sprang vom Pferd, eine Frau in Hosen. Keine Werwölfin; sie roch nach Mensch. Jetzt kam sie den Hang herauf, ihr Groom blieb mit den Pferden zurück.
Derenski verbarg sich hinter dem Stein, damit sie ihn nicht sah. Er beobachtete, wie sie den Hang hinaufstieg, hörte ihre keuchenden Atemzüge, schnüffelte in der Luft. Plötzlich versteifte er sich. Sie roch nicht nur nach Menschin, ihr haftete noch ein anderer Geruch an - der nach Werwolf. Schwach, aber unverkennbar lag er unter ihrem eigenen. Das konnte nur eines bedeuten: Sie kam von Shavick Castle. Das war doch mal etwas! Wenn er aus ihr herausbekommen konnte, was er unbedingt wissen musste … das würde ihnen viel Zeit ersparen. Er machte sich schmal hinter dem Stein, während sie einen der umgestürzten Menhire erreichte.
Sie blieb stehen, legte eine Hand auf den Stein, schaute über die Hügel und sah sehr nachdenklich und einsam aus. Danach ging sie zu einem aufrecht stehenden Stein und umarmte ihn. Derenski konnte ein Lachen nur mühsam zurückhalten. Menschen und ihre sentimentale Ader! Bestimmt glaubte sie, es handle sich um einen Stein, der vor Urzeiten aufgerichtet worden war, um Götter zu verehren, und hoffte, etwas von dieser göttlichen Kraft gehe auf sie über. Dabei waren Steine nur Steine, absolut unbeseelt bis in ihren innersten Kern.
Derenski tauchte mit einem Satz hinter Nola auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie schrie und fuhr herum. Er schaute ihr ins Gesicht, und es gab nur ein Wort, um ihre Miene zu beschreiben: Panik. Flucht, weg - ihre Gefühle stürmten auf ihn ein.
»Ich wünsche Euch einen angenehmen Tag, Mylady. Es scheint der erste sonnige in diesem Jahr zu sein.«
Seine Worte beruhigten sie nicht, sie wehrte sich gegen seinen Griff. Aus ihrer Frisur lösten sich einzelne Strähnen, ringelten sich unter ihrem Hut hervor, der Mantel öffnete sich vorn und gab den Blick auf eine eng anliegende Bluse und eine kurze Jacke frei. Beide brachten ihre Figur vorteilhaft zur Geltung. Derenski starrte auf ihren Busen.
»Pawel Tworek! Wo kommen Sie her? Haben Sie auch eine Zeitreise gemacht?«
Pawel Tworek? Der Werwolfjäger aus dem 16. Jahrhundert? Wieso hielt sie ihn für diesen hinterhältigen Bastard? Und was faselte sie über eine Zeitreise? In seiner Verwirrung lockerte er den Griff um ihre Schulter, und sie machte sich von ihm los, sprang einen Schritt zurück.
»Wo ist Ihre Schwester?«
Derenski hatte sich ein Stück gefangen. Wenn sie ihn für einen Werwolfjäger hielt - vielleicht war auf diese Weise etwas aus ihr herauszubekommen. Er würde ihr Spiel mitspielen. »Meine Schwester ist in Edinburgh.«
»Wie konnten Sie durch die Zeit reisen? Bringen Sie mich bitte wieder zurück nach London ins Jahr 2010. Ich muss unbedingt wieder dorthin. Meine Eltern sind da und meine Freunde und meine Arbeit.«
»Hm … ja …« Derenski überlegte. »Das ist nicht so einfach. Eine Zeitreise, das ist Magie, das ist Geheimnis.«
»Wenn Sie es einmal geschafft haben, können Sie es doch wieder machen? Bitte, Mr. Tworek, Sie müssen mich zurückbringen.«
Wie sie vor ihm stand mit der zunehmend in Auflösung begriffenen Frisur und dem bittenden Blick, war sie schöner als alle Menschenfrauen, die er bisher gesehen hatte. Er musste diese Frau haben – sofort. Zum Teufel mit Pawel Tworek, Zeitreisen und der Tatsache, dass sie wahrscheinlich nicht ganz richtig im Kopf war. Er zog sie an sich, sog ihren Duft ein. Sie wehrte sich gegen ihn, mit ihren Menschenkräften hatte sie jedoch keine Chance. Das stachelte seine Gier weiter an. Er wollte sie nicht töten, sondern sie besitzen und zeichnen. Wie das den Schotten in Shavick Castle gefallen würde: ein Abdruck seiner Zähne als bleibende Narbe auf ihrer Schulter? Gier und Kraft pulsten durch seinen Leib. Er riss ihren Mantel fort und die Bluse auf. Ihre bloße Schulter lag vor ihm, weich, weiß, überzogen mit Gänsehaut.
Sie wehrte sich weiter, doch Derenski schlug die Zähne in ihre Schulter. Er biss zu, schmeckte ihr Blut, und das Verlangen überwältigte ihn. Gierig saugte er ihren Lebenssaft ein und verlor die Kontrolle. Er verwandelte sich.
Nola war fassunglos. Wo eben noch Pawel Tworek sie bedrängt hatte, stand ein Wolf vor ihr, riesengroß, mit blutiger Schnauze, und seine Augen funkelten.
Im nächsten Moment sprangen zwei andere Wölfe hinzu. Alle drei knurrten drohend, und dann existierte nur noch ein fauchendes Knäuel. Nola wich zurück und presste eine Hand auf ihre Wunde. Sie wollte fliehen, aber ihre Füße waren wie am Boden festgenagelt, und sie konnte den Blick nicht von den kämpfenden Bestien abwenden. Offenbar kämpften zwei gegen einen, wahrscheinlich die beiden neu hinzugekommenen gegen Pawel. Sie konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen, denn obwohl sie sehr verschieden aussahen – silbergrau bis dunkelgrau – konnte sie sie kaum auseinanderhalten und wusste nicht genau, welcher von ihnen Pawel Tworek gewesen war.
Einer der Wölfe löste sich aus dem Knäuel und floh den Hügel hinab. Die anderen beiden folgten. Nola beobachtete sie am ganzen Leib zitternd, die Hand auf die schmerzende Schulter gepresst. Blut quoll durch den Mantel, den sie wieder richtig angezogen hatte, zwischen ihren Fingern hervor. Trotz des Mantels wurde ihr kälter.
Die Verfolger blieben dem Fliehenden dicht auf den Fersen. Der drehte sich um und stellte sich erneut zum Kampf. Das Knurren und Heulen drang bis zu Nola. Da die Wölfe nicht mehr in ihrer unmittelbaren Nähe waren, ließ ihre etwas Angst nach und sie beobachtete sie mit einer gewissen Faszination. Ein Wolf hatte sich in den Schwanz eines anderen verbissen, und es war fast komisch anzusehen, wie sie sich umeinander drehten. Der Dritte fuhr dazwischen, verbiss sich im Nacken des großen Grauen. Der ließ die Rute los und wandte sich dem neuen Gegner zu.
Ein hohes Heulen ertönte. Einer ist verletzt, dachte Nola, konnte jedoch nicht erkennen, wen es getroffen hatte. Da sich der Graue inzwischen aus dem Würgegriff befreit hatte, musste einer der anderen sein. Sie kamen wieder ein Stück den Hügel hinauf, und einer der Drei hinkte auf einem Vorderlauf. Nola strengte ihre Augen an und meinte, einen Blutstrom zu sehen, der dem Hinkenden die Schulter hinabfloss. Der große Graue und der Dritte fielen umso wütender übereinander her, jagten nun den Hügel hinab und verschwanden außer Sicht.
Der verletzte Wolf kroch auf dem Bauch auf Nola zu und hinterließ eine Blutspur im nassen Gras. Soweit ein Wolf traurig aussehen konnte, sah dieser traurig aus. Als er noch näher kam, wich sie zurück, bis sie an den Dolmen stieß. Den Rücken an den Stein gepresst, blieb sie stehen.
Der Wolf hielt ebenfalls inne und ließ sich nieder. Er legte die Schnauze auf die Vorderpfoten, zog die Stirn in Falten und sah aus, als wollte er »bitte, bitte, bitte« sagen. Er winselte. Wenn ein Hund winselte, klang es zum Steinerweichen, bei einem Wolf noch viel schlimmer.
Mitleid überwältigte Nola, und sie streckte eine Hand aus. Das Winseln wurde noch kläglicher.
»Du Armer, bist du schwer verletzt?«
Fußbreit um Fußbreit wagte sie sich vor. Wölfe hatte sie bisher nur im Zoo gesehen, und dieses Exemplar hier war viel größer. Es könnte ihr mit einem Biss die Hand abreißen. Dennoch näherte sie sich ihm weiter. Ihre eigene Verletzung hatte sie vergessen.
»Ruhig, ganz ruhig. Ich will dir nichts tun, nur helfen. Das verstehst du doch?« Sie gab ihrer Stimme einen dunkel-lockenden Klang.
Wedelten Wölfe mit dem Schwanz wie Hunde? Dieser hier tat es nicht. Er lag still auf der Erde, ein Zittern lief über sein Fell. Nola wagte sich noch näher heran, bis sie ihn berühren konnte. Sie kraulte ihn zwischen den Ohren, was ihm zu gefallen schien. Er hörte mit dem Winseln auf, stieß stattdessen ein zufriedenes Grunzen aus.
»Lass sehen! Das tut bestimmt weh. Ich will dir nichts tun.« Behutsam legte sie dem Wolf eine Hand in den Nacken, mit der anderen tastete sie nach seiner Schulter. Den Schmerz ihrer eigenen Verletzung ignorierte sie. Sein Blut netzte warm und klebrig ihre Finger, doch die Wunde konnte sie in dem dichten Pelz nicht ertasten. Ein forscheres Vorgehen wagte sie allerdings nicht.
»Ein Tierarzt sollte sich das ansehen. Nur weiß ich nicht, ob es hier einen gibt.« Oder was er von einem Werwolf als Patienten hielt. Sie musste sich widerwillig eingestehen, dass derjenige, den sie vorhin für Pawel Tworek gehalten hatte, selbst ein Werwolf gewesen war und nicht der ihr bekannte Werwolfjäger. Wahrscheinlich eine Familienähnlichkeit. Bestimmt war Pawel deshalb Jäger geworden, weil sein Vorfahre ein Werwolf gewesen war.
Der Wolf schmiegte den Kopf an ihren Oberschenkel und schaute zu ihr auf. Sie glaubte, Zärtlichkeit in seinen Augen zu lesen. Sie wagte sich noch einmal an die Schulter des Tiers, tastete nach der Wunde. Der Wolf blieb ruhig, als spürte er keinen Schmerz. Tatsächlich schien ihr die Verletzung nicht gefährlich, die Blutung hatte aufgehört, und es fühlte sich an, als schlössen sich die Ränder bereits.
Gedankenverloren kraulte sie ihn im Nacken. Plötzlich hielt sie ein Büschel Haare in der Hand. Das Wolfsfell sah nicht mehr glänzend aus, sondern wie bei einem räudigen Hund. Der Wolf hatte immer noch den Kopf an ihren Oberschenkel gelehnt, als kümmere ihn nicht, was mit ihm geschah. Dabei lösten sich die Haare büschelweise, kahle Stellen blieben zurück.
Nola erhob sich. Der zauberhafte Augenblick der Einigkeit mit dem Tier war vorbei. Und dann geschah es … Vor ihren Augen verlor der Wolf das letzte Fell, Arme und Beine wurden länger, die Pfoten zu Händen und Füßen, der Schädel veränderte sich, und die Augen wurden braun mit einem menschlichen Glanz.
Rhodry stand vor ihr – nackt. Der Wind wehte ihm das schwarze Haar ins Gesicht. Vor ihren Augen hatte sich ein Wolf in einen Menschen verwandelt. Nola schwanden die Sinne. Das Letzte, was sie wahrnahm, war, dass Rhodry sie auffing.
Als sie wieder zu sich kam, fühlte sie Rhodrys Lippen auf ihren. Instinktiv erwiderte sie den Kuss.
»Nola, Prinzessin. Ist dir was passiert?«
»Nein, mir geht es gut.« Sie strampelte, um wieder auf die Füße zu kommen. Er entließ sie aus seinen Armen, hielt aber noch ihre Hand fest für den Fall, dass sie wieder das Bewusstsein verlieren sollte.
Nolas Wunde hatte aufgehört zu bluten und schmerzte kaum noch. Rhodry war noch immer nackt. Sie betrachtete seinen gut gebauten Körper mit unverhohlenem Interesse. Durchtrainiert und kein Gramm Fett. So perfekt hatte sie ihn sich nicht einmal in ihren Träumen vorgestellt. Ihr Blick glitt zu seiner rechten Schulter und fiel auf eine blutige Bisswunde.
»Rhodry, du bist verletzt und brauchst einen Arzt.«
»Besser nicht. Ich will keinen Arzt an dem zweifeln lassen, was er auf der Universität gelernt hat.«
»Aber deine Schulter! Am Ende entzündet sich die Wunde noch und es nimmt ein schlimmes Ende.« Sie konnte nicht aufhören, seinen nackten Körper anzugaffen.
Er winkte mit einer Hand ab. »Schaust du nackte Männer immer so eingehend an?«
Sie wich seiner Frage aus. »Leg dir wenigstens meinen Mantel um. Du kannst doch nicht splitterfasernackt nach Shavick Castle zurück.«
»Warum nicht? Die Burg gehört mir.«
»Aber nackt?!«
»So ist das nun einmal, wenn wir wieder unsere menschliche Gestalt annehmen. Du brauchst deinen Mantel nötiger als ich. Teddy wartet mit den Pferden auf dich.«
Dalton hatte Nola auf ihr Zimmer geführt und nach seiner Tochter geschickt, damit sie der jungen Lady ins Bett half und die Wunde auswusch und verband. Amelia war mit einer Schüssel warmen Wassers und Leinenbinden gekommen. Mit einem feuchten Stoffbausch tupfte sie die Wunde aus. Sie ging dabei nicht besonders sanft mit Nola um: Sie wischte das Blut ab und untersuchte die Wunde, ohne Rücksicht auf die Schmerzen der Verletzten zu nehmen. Ihrem Vater gegenüber tat sie jedoch so, als läge ihr nichts so sehr am Herzen wie Nolas Wohl und beantwortete jede von Daltons Fragen mit sanfter Stimme.
Plötzlich flog die Zimmertür auf, und Rhodry stand im Raum. Er hatte sich wieder angezogen, trug eine schwarze Kniehose und ein am Hals offenes Hemd, die Weste war ebenfalls offen.
»Alle beide raus!«
Amelia huschte aus dem Zimmer, als könnte sie gar nicht schnell genug wegkommen. Der Butler öffnete jedoch den Mund, um etwas zu sagen.
»Hinaus!«
Mit Nola allein im Zimmer schloss der Earl die Tür und legte einen Riegel vor. »So, jetzt wird uns hoffentlich niemand mehr stören.«
Nola war froh, Amelias Behandlung entkommen zu sein. Rhodry drehte sich wieder zu ihr um, und ein warmes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante, betrachtete ihre Verletzung. Seine Blicke waren ihr ein wenig unangenehm, deshalb versuchte sie, ihre Wunde mit der gesunden Hand zu bedecken.
Rhodry hielt ihre Hand fest. »Lass mich deine Wunde behandeln.«
Er tauchte den Stoffbausch in das warme Wasser und setzte Amelias Werk fort. Seine Hände waren viel sanfter als ihre, deshalb spürte Nola so gut wie keinen Schmerz. Abschließend verband er ihre Schulter mit dem weichen Leinen.
»Das wird die Wunde schützen.« Er verknotete die Binden. »Und jetzt will ich wissen, warum du mit fremden Werwölfen auf Hügeln stehst und schwatzt?«
Nola bewegte unbehaglich die Schulter unter dem neuen Verband. »Sehr witzig.«
»Nola, wo bleibt dein Humor? Du hast welchen, dessen bin ich mir ziemlich sicher.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste es nicht. Ich meine, zu Anfang wusste ich nicht, dass es sich um einen Werwolf handelt. Er hat sich schließlich nicht vorgestellt und gesagt: ›Guten Tag, ich bin ein Werwolf, wie kann ich Ihnen behilflich sein?‹ So war das nicht.«
»Das glaube ich dir gerne.«
»Ich kenne ihn aus London – aus meinem London des 21. Jahrhunderts. Er hat sich mir als Werwolfjäger Pawel Tworek vorgestellt und behauptet, Werwölfe hätten es auf mich abgesehen. Er wollte mich mit seiner Schwester vor ihnen beschützen.«
»Er hat sich als Pawel Tworek ausgegeben?« Rhodry lachte laut auf.
Bevor er mehr sagen konnte, klopfte es an der Tür. Er ging hin, um zu öffnen, und Amelia trat ein, beladen mit einem Tablett. Es konnte die Teller und Schüsseln kaum fassen, die schier überquollen mit kaltem Braten, Schinken und Würsten. Als Zugeständnis an die Vorlieben einer Frau gab es außerdem ein Obstkörbchen, einen Pudding und einen kleinen Kuchen. Amelia stellte alles auf den Tisch neben Nolas Bett und brachte gleich darauf ein zweites Tablett mit einer Karaffe Rotwein und zwei Gläsern. Sie arrangierte alles sorgfältig, und es war nicht zu übersehen, dass sie den Raum nur höchst ungern wieder verlassen wollte. Mehrmals warf sie Rhodry kurze Seitenblicke zu. Doch als es schließlich nichts mehr zu tun gab und da niemand das Wort an sie richtete, huschte sie notgedrungen hinaus.
Rhodry verschloss die Tür hinter ihr wieder. Danach füllte er zwei Weingläser und reichte eines davon Nola. Sie nahm einen winzigen Schluck.
Der Earl setzte sich an den Tisch und bediente sich großzügig mit Fleisch, Nola begnügte sich mit einem Stück Kuchen.
»Was ist mit Pawel Tworek?«, fragte sie zwischen zwei Bissen.
»Wenn dir jemand erzählt hat, er sei Pawel Tworek, ist das eine faustdicke Lüge. Pawel Tworek war Werwolfjäger und ist 1639 in Danzig gestorben. Ein Werwolf hatte übrigens nichts mit seinem Ableben zu tun, sondern der Schwarze Tod. Niemand hat um ihn getrauert, er war selbst eine Plage. Eine Schwester hatte er nicht.«
Dann hatte der Pole sie in London belogen; dass Rhodry ihr die Unwahrheit erzählte, glaubte sie keinen Augenblick. Der Kuchen schmeckte Nola jetzt nicht mehr, und sie schob den Teller weg. Der falsche Tworek hatte nicht nur sie selbst, sondern auch Violet und die ganze Zeitungsredaktion betrogen.
»Der angebliche Werwolfjäger heißt in Wahrheit Maksym Derenksi und ist der Anführer des Krakauer Werwolfrudels, von dem ich dir erzählt habe. Seine Seelenpartnerin ist Antonia Derenska. Die beiden sind verantwortlich für das, was im letzten November passiert ist und für den Zustand, aus dem du mich erlöst hast.«
»Was genau hat er mit dir gemacht?« Nola war sich ihrer Gefühle nicht sicher – sie schwankte zwischen Wut, Enttäuschung, unbändigem Zorn, dem Verlangen nach Rache und Angst. Diese Frage erschien ihr die am wenigsten verfängliche.
»Das weiß ich nicht genau, ich war wie tot und doch nicht tot. Du hast mich nach mehreren Wochen aus diesem Zustand erlöst. Mir kommt es allerdings vor, als wären 200 Jahre vergangen.«
»Meine Zeit war das Jahr 2010, und wenn wir jetzt 1818 haben, stimmt das ungefähr.«
»Ich habe also recht gehabt!« Rhodry sah zufrieden aus, als er ein weiteres Stück Braten auf seine Gabel spießte und in den Mund schob. »Eugene wollte mir nicht glauben.«
Nola war sich nicht sicher, ob Rhodry gerade die vierte oder fünfte Bratenschnitte verzehrte, jedenfalls sah er immer noch nicht aus, als wäre es seine Letzte.
»Wenn du nur Fleisch isst, bekommst du einen Eiweißschock.« Eigentlich sagte man das über Fisch, aber so viel Fleisch konnte auf keinen Fall gesund sein. »Du musst auch Gemüse und Obst essen.«
»Obst und Gemüse sind für Menschen. Werwölfe brauchen Fleisch, das gibt uns Kraft.«
»Hunde brauchen auch pflanzliche Kost.« Sie kam sich schlau vor, mit ihrem modernen Wissen.
Er lachte wieder. »Jetzt vergleichst du uns Werwölfe schon mit Hunden. Am besten noch mit kleinen Schoßhündchen, die vornehme Damen mit sich herumtragen. Da täuschst du dich, unser Metabolismus arbeitet anders als der von Hunden.« Er bleckte sein Gebiss, das wirklich furchterregend aussah und mit dem eines Hündchens nichts gemein hatte.
Nola zuckte zurück.
Rhodry wurde sofort wieder ernst. »Keine schlechte Idee von Derenski, sich als Pawel Tworek auszugeben. Er ist listig, das muss man ihm lassen. Wie er wohl auf dich gekommen ist?«
Nola hätte ihm von Violets Zeitungsartikel erzählen können, aber sie presste die Lippen aufeinander. Rhodry schien sie nicht ernst zu nehmen und hatte zudem auch seine Geheimnisse vor ihr.
»Ich weiß nicht. Wieso konnte er überhaupt im Jahr 2010 nach London kommen, wenn er doch jetzt schon lebt?«
»Wir leben lange. Tatsächlich sind wir unsterblich.«
Jetzt war ihre Neugier geweckt. »Wieso habt ihr dann Angst vor den Jägern, wenn sie euch doch gar nichts anhaben können?«
»So einfach ist es leider nicht. Silber beendet unser unsterbliches Dasein – es verbrennt uns, und das wissen die Jäger. Aber jetzt genug davon! Ruh dich ein paar Stunden aus. Bald reisen wir ab, und zwar ans Meer. Spätestens morgen früh. Hier ist es nicht sicher für dich, wenn Derenski es auf dich abgesehen und dich sogar schon an der Schulter gezeichnet hat.« Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar, und bevor Nola etwas sagen konnte, hatte er das Zimmer bereits verlassen.
Sie blieb zurück und bewegte probehalber die verletzte Schulter. Außer einem Spannen spürte sie keinen Schmerz, dafür hatte sie plötzlich Hunger. Das lag bestimmt an den Fleischplatten, deren Duft ihr verführerisch in die Nase stieg. Sie nahm eine Scheibe Braten und hörte erst wieder auf zu essen, als sie glaubte, platzen zu müssen.
Endlich reiste Rhodry mit ihr ans Meer!