Venedig 1498: Giuliana und ihr Vater, der bekannte Mosaikleger Il Sasso, ziehen nach Venedig, um im Palazzo Bragadin ein Mosaik zu legen. In der Öffentlichkeit tritt Giuliana als Junge verkleidet auf und nennt sich Giulio, denn ihr Vater sieht nicht mehr gut und sie hilft ihm bei der Arbeit. In Venedig ist gerade die Zeit des Karnevals und Giuliana schleicht sich nachts aus dem Haus, um ein Karnevalsfest zu besuchen. Sie lernt dabei den Patrizier Amadeo Bragadin kennen und ist von seiner männlichen Ausstrahlung fasziniert, aber auch von der Wirkung verwirrt, die er auf ihre Gefühle hat.
Zu ihrer Überraschung ist es der Palazzo von Amadeos Familie, in dem sie das Mosaik legen sollen. Amadeo durchschaut ihre Verkleidung als Giulio und erpresst sie, ihm zu Willen zu sein. Zwischen beiden beginnt ein erotisches Spiel, in dem Amadeo sie in mehreren Lektionen in die Liebe einführt. Giuliana könnte glücklich sein, läge nicht die Last der Verkleidung auf ihr ...
Diane Oliver stammt aus Bonn, liebt Verkleidungen und Masken und das Sudoku in der Samstagszeitung. Sie fährt am Wochenende gerne zum Wandern und macht auch vor Felsen und steilen Schluchten nicht Halt. In der freien Natur kommen ihr die besten...
In ihrer schönsten Handschrift hatte sie die Liste zweimal fein säuberlich geschrieben. Beide Papiere lagen vor ihr auf dem Tisch und sahen exakt gleich aus. Bereits als Schreibschülerin hatte sie ihren Ehrgeiz darauf verwendet, die Buchstaben genau untereinander zu setzen und immer gleich aussehen zu lassen. Das hatte ihr manches Lob ihres Vaters eingebracht.
Dem Schreiben der Listen waren Diskussionen und Berechnungen vorausgegangen. Vater und Tochter hatten zusammen am Tisch gesessen, nach und nach hatten sie immer mehr Smalti aus den Truhen geholt und auf dem Tisch ausgebreitet. Sie hatten sie nah an die Kerzenflammen gehalten, um ihr Feuer zum...
...Schimmern zu bringen, als wären es kostbare Edelsteine. Manche hatten sie verworfen – nicht die richtige Farbe; bei einigen waren sie sich gleich einig gewesen, und viele hatten zu erhitzten Diskussionen geführt, weil der eine etwas wollte, was der andere für groben Unfug hielt. Einmal hatte sogar der Handschuhmacher aus dem Nachbarhaus mit etwas – wahrscheinlich war es ein Schuh gewesen – gegen die Wand getrommelt und sie verflucht. Mehrmals war Ana hereingekommen und hatte ihnen Gewürzwein gebracht, um ihre erhitzten Gemüter zu beruhigen. Giuliana hatte so getan, als hätte sie nicht gesehen, wie die Haushälterin kurz eine Hand auf die Schulter ihres Vaters legte und er sich für einen Moment gegen ihren Arm lehnte.
Wie jedes Mal hatten sie es auch diesmal geschafft, sich zu einigen. Giuliana hatte alle Smalti nebeneinander auf den Tisch aufgereiht. Die Reihe war lang, länger als sie gedacht hatte.
»Wird Bragadin das bezahlen?«, hatte sie ängstlich gefragt.
»Wir können nicht noch mehr Flächen zusammenlegen. Dann sieht es nicht mehr aus wie ein Mosaik von Il Sasso, sondern wie das eines Stümpers. Es wird so gemacht oder er sucht sich jemand anderen.«
Vater und Tochter schauten sich an – einig und stolz. Giulianas Arbeit war damit nicht beendet, sie musste ausrechnen, wie viel von jeder Farbe benötigt wurde, natürlich mit einem Sicherheitsaufschlag. Das und die Adressen der Glasbläsereien hatte sie auf die beiden Listen geschrieben, eine für Signore Bragadin, die andere für die Bücher ihres Vaters. Sie faltete das Blatt für Bragadin zusammen, machte an einer Kerze Siegelwachs heiß und ließ einige Tropfen auf den Brief fallen. In das heiße Wachs drückte sie Il Sassos Siegel: ein Turm, umgeben von einem Ring. Der Turm konnte auch ein Berg sein, aber überall in Italien war dieses Zeichen als das ihres Vaters bekannt.
Sie vertauschte das Kleid mit ihrer Giulio-Kleidung, zuletzt versteckte sie ihre schulterlangen Haare unter einer Kappe und machte sich auf den Weg zum Palazzo Bragadin. Diesmal ging sie allein, und anders als beim letzten Mal öffnete ihr eine Magd die Tür, nachdem sie zuvor aus einem Fenster gespäht hatte, um zu schauen, wer der Besucher war. Die junge Frau hatte schmutzige Hände und Wasserflecke auf der Schürze und dem Mieder, als hätte sie gerade im Haus die Böden geschrubbt. Von der Richtigkeit ihrer Annahme konnte Giuliana sich gleich darauf überzeugen, als sie auf der Treppe einen Eimer und eine Bürste sah, außerdem lehnten zusammengerollte Teppiche an der Wand.
Die junge Frau – mit einem anderen Kleid und mit gewaschenem Haar wäre sie hübsch, entschied Giuliana – brachte sie wieder in denselben Raum im Erdgeschoss. »Ich sage dem Signore Bescheid.«
Diesmal brannten in dem Raum keine Kerzen, sie war ja auch nicht erwartet worden, sonst hatte sich nichts verändert. Der Entwurf lehnte nicht mehr an der Wand; sie konnte nur hoffen, Bragadin habe ihn dem einfallslosen Künstler zurückgeschickt. Sie legte die versiegelte Liste auf den Tisch und wartete mit auf dem Rücken verschränkten Händen.
»Giulio Tasso, Lehrling des großen Il Sasso, ich grüße dich, Bursche.«
Bei dieser Stimme fuhr sie herum. Sie wusste nicht, wen sie erwartet hatte, den Haushofmeister, Bragadin selbst, jedenfalls nicht Amadeo Bragadin. In dem weiten, am Hals offenen Hemd und der schwarzen Hose sah er besser aus, als für einen Mann gut war. Sein verstrubbeltes schwarzes Haar tat noch sein Übriges dazu.
»Signore Bragadin.« Sie verneigte sich. Im letzten Moment hatte sie daran gedacht, ihre Stimme zu verstellen, dennoch zitterte sie. »Im Auftrag meines Meisters bringe ich die Informationen, die er Eurem Vater zugesagt hat.« Sie deutete auf den Brief.
»Die Liste mit den Materialien und bei welchen Lieferanten sie zu beziehen sind«, sagte er zu ihrer Überraschung. Beim letzten Mal schien er ihr an den Einzelheiten der Mosaikerstellung nicht sehr interessiert gewesen zu sein.
Er ging zum Tisch, und dabei bemerkte sie, dass er das linke Bein nachzog, als wäre er dort verletzt. Sofort überflutete sie eine Welle der Fürsorglichkeit für ihn, am liebsten hätte sie einen Schemel unter dem Tisch hervorgezogen, damit er sich setzen konnte, und einen zweiten, um das verletzte Bein hochzulegen. Das passte vielleicht zu Giuliana, ganz sicher nicht zu Giulio.
Er nahm die Liste und erbrach das Siegel. Sein Blick huschte über ihre schön geschwungenen Buchstaben, und er schnalzte mit der Zunge.
»Hast du das geschrieben?«
»Im Auftrag meines Vaters. Wir haben es beide zusammen ausgearbeitet.«
»Wie lange wird es dauern, alles zu besorgen?«
»Zwei oder drei Dutzend Tage. Bevor wir mit dem Verlegen des Mosaiks beginnen, müssen wir einige Vorbereitungsarbeiten machen, die Wand muss ganz glatt sein, sonst halten die Smalti nicht. Ich muss noch die Skizze des Mosaiks vervollständigen, dazu muss ich die Bilder Eurer Ahnen sehen und ihre Namen erfahren.«
»Du kannst jederzeit zum Zeichnen kommen. Ich will alles ordentlich gemacht haben. Was wird das Ganze kosten?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ein Mosaik von Il Sasso hat seinen Preis.«
»Das glaube ich wohl. Weißt du, wie wir es machen werden?«
Sie schaute ihn fragend an.
»Mein Vater darf das hier«, er schwenkte das Papier, »nur sehen, wenn er besonders guter Laune ist. Zum Beispiel nach einem erfolgreichen Geschäft, sonst sagt er deinem Vater ab und beauftragt Giovanni Bellini mit einer Zypressenallee in Frescotechnik. Farben kosten nur ein Bruchteil von dem, was diese Steine verschlingen.«
»Und nach ein paar Jahren verblassen sie.« Giuliana biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte wieder vergessen, ihre Stimme zu verstellen. Tiefer fuhr sie fort: »Ein Mosaik wird noch in hundert, zweihundert oder dreihundert Jahren in gleicher Pracht die Wände des Palazzo Bragadin zieren.«
»Keiner von uns lebt so lange.«
»Eure Nachfahren, Signore, werden sich ebenso daran erfreuen wie Ihr.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, für sie wurde der Raum gleich heller. »Du hast Recht, Il Sassos Lehrling. Ich werde mich darum kümmern. Der Palazzo Bragadin soll ein Mosaik bekommen, um das uns ganz Venedig beneiden wird.«
Sie erwiderte das Lächeln.
»Jetzt kommen wir zu dir, Giulio.«
Ihr Lächeln gefror, als er ihren Namen mit seltsamer Betonung aussprach. Er hatte doch die Liste, aber statt sie gehen zu lassen, stellte er sich breitbeinig vor die Tür, sodass sie unmöglich an ihm vorbeihuschen konnte.
»Signore?« Sie dachte daran, ihre Stimme wie die eines Jungen klingen zu lassen.
»Was sind deine Aufgaben bei diesem Mosaik?«
»Oh.« Sie musste sich zusammenreißen, um sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen – das wäre mädchenhaft. »Ich arbeite Il Sasso zu, mische Mörtel an, zerkleinere Steine, bringe sie ihm, mache sauber.«
»Du hast die Skizzen gezeichnet?«
»Ich bin begabt dafür, sagt mein Meister. Deshalb lässt er mich zeichnen und nimmt nur einige Korrekturen vor.« Sie hatte sich entschieden, nicht von ihrem Vater, sondern von ihrem Meister zu sprechen, das schaffte mehr Distanz zwischen ihr und Amadeo und machte es ihr leichter.
»Wer überträgt die Skizze auf die Wände?«
»Il Sasso. Ich helfe dabei, ich darf die groben Umrisse zeichnen, und er trägt die Flächen ein.« Sie schluckte. Das war die erste richtige Lüge, die sie ihm erzählt hatte.
Trotz seiner Beinverletzung bewegte Amadeo sich schnell, denn auf einmal stand er vor ihr, griff nach ihren Händen, drehte sie hin und her und ließ ihr keine Chance, sie ihm wieder zu entziehen. »Sehr zarte Hände für einen Steinmetz. Die sehen aus, als schwingen sie lieber den Pinsel als den Hammer.«
»Das täuscht. Als Mosaikleger muss man kein vierschrötiger Klotz sein.«
»Dein Vater ist bedeutend kräftiger, und die zarten Hände wie bei einer Frau … Du erinnerst mich an jemanden, Giulio. Ein Mädchen, das ich bei einem Karnevalsvergnügen auf der Piazza San Marco kennengelernt habe. Hast du eine Schwester, Giulio?«
Da war wieder die eigenartige Betonung ihres Namens. Sie schüttelte den Kopf, in diesem Moment war sie sich ihrer Stimme nicht sicher.
»Hast du wirklich keine Schwester?«
»Nein, ich wüsste es doch. Il Sasso hat keine Tochter. Ich bin sein Sohn, und mein Vater würde eine Tochter nie zu einem öffentlichen Karnevalsfest gehen lassen. Mich leider auch nicht.« Sie schaute zerknirscht nach unten, und endlich gelang es ihr auch, ihm ihre Hände zu entziehen.
»Da bleibt dennoch eine Ähnlichkeit. Das Kinn, die Haare, der Mund.« Er langte nach einer der Strähnen, die aus ihrer Kappe herausgerutscht waren.
Giuliana wollte den Kopf fortziehen und machte es damit noch schlimmer: Statt der Haare erwischte er die Kappe, zog sie ihr vom Kopf und kastanienbraunes, gewelltes Haar ergoss sich über ihre Schultern.
»Nein!« Sie griff mit beiden Händen hinein, wollte das Unglück aufhalten, das längst geschehen war.
»Das ist Frauenhaar.«
Er war einen Moment verblüfft, und ihr gelang es, an ihm vorbei und zur Tür hinauszuhuschen. Im Flur war die Magd immer noch dabei, Boden und Treppe zu scheuern, Giuliana wäre beinahe über ihren Eimer gestolpert. Im letzten Moment konnte sie darüberspringen. Sie machte sich nicht die Mühe, die Tür hinter sich wieder zu schließen, sondern rannte die Gasse entlang, schlug den Kragen hoch und kümmerte sich nicht um die Blicke der Venezianer.
Bei jedem Ausatmen bildete sich vor ihrem Gesicht eine Nebelwolke, ihre Seiten stachen. Der Februar war in Venedig nicht wärmer als in Verona. In ihrem Geist hämmerten zwei Fragen so laut wie Kirchenglocken: Hatte Amadeo sie durchschaut? Konnte sie sich im Palazzo Bragadin noch sehen lassen?
Sie rannte und rannte, die Stadt war groß, die Gassen verwinkelt. Jemand stellte sich ihr in den Weg.
»Es gibt kürzere Wege als deinen, Giulio.« Starke Arme hielten sie auf, Arme, die sie schon einmal umfangen hatten. Amadeo zog sie in einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern, kaum breit genug für eine Person. Er drückte sie gegen die Hauswand. »Du entkommst mir kein zweites Mal, Giulio. Beichte mir dein Geheimnis.«
»Da gibt es nichts.« Sie schüttelte heftig den Kopf, ihr Haar flog, und sie atmete keuchend.
»Ich vergesse kein hübsches Mädchen, das einmal in meinen Armen gelegen hat, kleine Schäferin.«
»Nein, nein. Das bin ich nicht.«
Mit dem Gewicht seines Körpers drückte er sie gegen die Mauer. Er griff mit einer Hand in ihr Haar und hielt ihren Kopf fest, mit der anderen tastete er ihre Brust entlang. Sein Gesicht leuchtete auf, als er fündig geworden war. »Wenn das keine Brüste sind, hast du dir wohl Äpfel unter dein Wams geschoben. Jetzt wird mir alles klar.«
»Lasst mich gehen.«
Er redete weiter, als hätte sie nichts gesagt. »Il Sasso hat keinen Sohn, sondern eine Tochter. Aus Gründen, die ich noch nicht verstehe, lügst du alle Welt an und gibst dich als sein Sohn und Lehrbursche aus. Aber nachts verwandelst du dich in eine Schäferin der Herzen. Warum?«
»Ich lüge nicht.«
»Statt Giulio sollte ich wohl besser Giulia zu dir sagen.«
»Giuliana.« Sie gab auf. Es hatte keinen Zweck mehr, das Offensichtliche zu leugnen. So gut hatte sie Amadeo an dem einen Abend kennengelernt, um zu wissen, dass er von einer einmal aufgenommenen Fährte nicht abließ.
Er wiederholte ihren Namen, ließ die Silben auf der Zunge zergehen – es hörte sich gut an. »Der Name passt besser zu dir als Giulio. Warum, meine schöne Schäferin?«
»Kann eine Frau Mosaikleger werden, selbst Lehrlinge ausbilden?«, entgegnete sie ihm fragend und antwortete sich anschließend gleich selbst. »Die Zunft lässt das niemals zu. Was mein Vater geschaffen hat, muss fortbestehen, sein Name muss weiterleben.«
»Wie lange willst du den Burschen spielen? Willst du niemals heiraten, keine Kinder bekommen?«
»Ich weiß nicht.«
»Beim heiligen Marco, das ist eine Idee, die verrückter nicht sein könnte. Wer weiß alles davon?«
»Ich, mein Vater, unsere Haushälterin Ana und jetzt Ihr, Signore. Verratet mich nicht. Oh bitte, bitte. Ich bin in Eurer Hand. Wenn Ihr es Eurem Vater sagt, müssen wir Venedig verlassen.«
»Du bist in meiner Hand.«
Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Es ließ sie ahnen, dass er ihrer Bitte nicht ohne Gegenleistung nachkommen wollte.
»Bitte, bitte, Signore.«
Er zögerte mit der Antwort, und mit jedem Wimperschlag, das sein Schweigen länger dauerte, fühlte sie sich ihm mehr und mehr ausgeliefert.
»Ich verrate dich nicht, wenn du etwas für mich tust.«
»Was?« Ihr Herz hüpfte.
»Alles. Du bist in meiner Hand und wirst alles tun, was ich von dir verlange. Du wirst meine Schäferin sein, mein Bursche, wirst vor mir knien und mich deinen Meister nennen, wirst mir Vergnügen bereiten, wann immer und wo immer ich es will.«
Sein Gesichtsausdruck ließ dabei keinen Zweifel aufkommen, welche Art Vergnügen er meinte. Sie schnappte nach Luft, fühlte sich, wie ein Fisch sich fühlen musste, nachdem ein Fischer ihn an Land gezogen hatte.
»Das könnt Ihr nicht verlangen, Signore Bragadin, bitte.«
»Ich kann, und ich werde.«
»Das ist unchristlich.«
»Deine Lügengeschichten sind also gottesfürchtig? So brauchst du mir nicht zu kommen, meine schöne Schäferin. Wir Venezianer sind ganz und gar unmoralisch, und die Veroneser sind nicht besser. Gib mir dein Versprechen oder ich gehe auf der Stelle zu meinem Vater und erzähle ihm, wer du wirklich bist. Ich sage es auch noch drei oder vier anderen Leuten, und spätestens übermorgen lacht ganz Venedig über Il Sasso. Du hast die Wahl.« Seine Hand lag noch auf ihrer Brust, und er drückte sanft zu.
Sie konnte nicht ausweichen, seine Hand nicht wegschieben. Und hatte sie eine Wahl? Giuliana überlegte, und alles, was sie sich vorstellen konnte, waren seine Lippen auf ihren. Sie sollte ihn Herrn und Meister nennen, ihm Vergnügen bereiten – ein Angebot jenseits jeder Moral. Sie hatte die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Langsam nickte sie.
»Ich bin in Eurer Hand, Signore Bragadin.«
Ein zufriedener, lüsterner Blick traf sie, und unwillkürlich zog sie die Schultern hoch, als könne sie das vor ihm verbergen.
»Du hast eine kluge Wahl getroffen, schöne Schäferin.«
»Was soll ich für Euch tun?«
»Als erstes hörst du auf, mich Signore Bragadin zu nennen. Dabei komme ich mir so alt vor, als wäre ich mein eigener Vater. Ich heiße Amadeo. Nenn mich so.«
»Amadeo.« Der Name tropfte von ihren Lippen wie Musik.
»Sehr gut.«
»Was noch?«
»In zwei Tagen kommst du abends …«, er neigte sich dichter zu ihr und flüsterte ihr eine Adresse ins Ohr. »Ich werde dich dort erwarten. Komm als Junge. Und wenn du glaubst, mich übers Ohr hauen zu können …«
Die Drohung schwebte in der Luft.
»Ich komme. Ich bin Il Sassos Tochter und halte meine Versprechen.«
»Dann gib mir einen Vorgeschmack.«
Er drückte seine Lippen auf ihre, und dieser Kuss schien kein Ende nehmen zu wollen und schmeckte wider Erwarten süßer als die, die er ihr im Palazzo Ducale gegeben hatte. Sie lehnte sich an ihn und öffnete ihre Lippen. Ihre Zungen spielten miteinander, und lange bevor sie es wünschte, löste er sich von ihr.
»In zwei Tagen gibt es mehr. Geh jetzt nach Hause.«
Amadeo schob sie aus dem schmalen Durchgang auf die Gasse zurück. Als sie sich noch einmal nach ihm umdrehte, verschwand er gerade auf der anderen Seite um die Ecke. Sie strich sich über die Lippen und wusste nicht, ob sie das Wiedersehen in zwei Tagen fürchten oder herbeisehnen sollte.
Sofort als der Kuss endete, zog er sich in die Sicherheit eines Hauseingangs zurück. Das war ja … Fabrizio schüttelte den Kopf. Pietro Zianello wäre begeistert, davon war er überzeugt. Bisher war sein Auftrag langweilig gewesen, er hatte sich die Zeit um die Ohren geschlagen, um den Palazzo Bragadin zu beobachten, und dabei gefroren. Amadeo und seinen Freunden war er mal hierhin und mal dorthin gefolgt. Total langweilig. Als er heute den Burschen an die Tür des Palazzo klopfen sah, dachte er nicht, dass sich daraus etwas Interessantes entwickeln könne. Doch es hatte dann nicht lange gedauert, bis dieser Kerl aus dem Haus gerannt kam. Da war ihm das erste Mal etwas komisch vorgekommen; er konnte sich keinen Grund vorstellen, warum jemand, der aussah wie der Lehrling eines Handwerkers, aus dem Palazzo Bragadin fliehen sollte. Er war unschlüssig, was er weiter machen sollte, dem Jungen hinterherrennen oder das Haus beobachten.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als Amadeo Bragadin den Palazzo ebenfalls verließ. Er folgte dem jungen Patrizier, und als dieser den Handwerksburschen abfing und in den schmalen Durchgang zog, stahl sich ein Grinsen auf Fabrizios Gesicht. Er kam nicht nah genug heran, um sie zu belauschen, aber als Amadeo dem Burschen die Hand auf die Brust legte, spitzten sich seine Lippen zu einem lautlosen Pfiff. Gleich darauf der Kuss, ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Na, wenn das keine Entdeckung war – der edle Amadeo Bragadin trieb es mit Knaben.
Der Junge kam aus dem Durchgang, und Fabrizio musste innerhalb eines Augenblicks entscheiden, ob er ihm oder Amadeo folgen sollte. Er entschied sich für den Jungen und ging mit einigem Abstand hinter ihm her.
Tief in Gedanken versunken schlenderte der dahin, entfernte sich immer weiter vom Canale Grande. Die Viertel wurden weniger vornehm, und schließlich verschwand der Junge in einem hohen, schmalen Haus. Fabrizio kannte alle Hurenhäuser der Stadt und wusste auch, wo man seine Fleischeslust mit Knaben stillen konnte. Dieses Haus war keines davon.
Nachdenklich ging er daran vorbei. Schäbige, aber völlig unauffällige Fassade, stabile Tür, schmaler Kanal vor dem Haus und in einem Viertel ehrbarer Leute. Wenn das ein Hurenhaus war …
Er runzelte die Stirn. Im Haus daneben hatte ein Handschuhmacher seine Werkstatt, ein Schild über der Tür mit einem Handschuh und einer Nadel wies darauf hin.
Der junge Zianello würde von ihm wissen wollen, wer der Junge war und was genau er mit Amadeo Bragadin zu schaffen hatte, so gut kannte er ihn. Fabrizio spielte mit der an seinem Gürtel hängenden Börse. Zianello hatte sie ihm gegeben, und sie war gut gefüllt, weil er ihm weisgemacht hatte, dieser Auftrag wäre nur mit zwei Helfern zu erledigen. Angeheuert hatte er bisher noch niemanden, aber wenn er jetzt den Jungen und Amadeo beobachten musste, musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und einen Teil des Geldes opfern. Das schmeckte ihm nicht, aber er wusste schon, wo er den passenden Mann fand.
Hier war heute nichts mehr zu holen. Er musste sich unauffällig erkundigen, wer hier wohnte – auch da wusste er schon, an wen er sich zu wenden hatte.
»Bist du das, Giuliana?«, rief Ana aus der Küche, kaum dass sie die Haustür geschlossen hatte.
»Ich heiße Giulio.«
»Für mich bleibst du immer Giuliana, Lämmchen. Ich habe dich schon im Arm gehalten, als du so klein warst.« Ana war in der Küchentür erschienen und zeigte mit den Händen eine Säuglingsgröße an.
Dagegen ließ sich nichts sagen, Giuliana schwieg.
»Hast du nichts mitgebracht?«
»Ich war im Palazzo Bragadin und habe die Liste abgegeben. Mehr nicht.« Ihre Stimme hatte nicht gezittert, auch nicht bei den beiden letzten Worten. Innerlich atmete sie auf; Anas Blick war scharf, sie konnte einem in die Seele schauen.
»Ich hatte dich gebeten, mir etwas vom Markt mitzubringen. Wo ist es?«
Bei allen Heiligen – kaum hatte Ana die ersten Worte gesagt, fiel es Giuliana siedend heiß wieder ein: Sie sollte vom Palazzo Bragadin aus zum Markt gehen und zwei Kaninchen für das Abendessen mitbringen, außerdem Mehl, zwei kleine, weiche Käse, Trauben und eine Melone. Ana hatte ihr zwei Dukaten gegeben. Sie legte eine Hand auf ihren Gürtel, darin befand sich eine geheime Tasche, in der sie das Geld versteckt hatte.
»Was ist mit dir, Mädchen? Hast du das Geld verloren oder für Tand ausgegeben? Wurde es dir geraubt? Den Venezianern ist ja nicht zu trauen.« Mit den Bewohnern der Serenissima stand Ana immer noch auf dem Kriegsfuß. So schnell gewöhnte sie sich nicht an neue Nachbarn.
»Gar nichts ist passiert, liebste Ana. Ich habe es vergessen. Ich mache mich gleich auf den Weg.
»Wann soll dann das Abendessen fertig sein? Zu der unchristlichen Zeit, die die Venezianer bevorzugen? Es sollte die Kaninchen geben, aber bis die durch sind …«
Im Hause Tasso wurde das Abendessen am frühen Abend zur Zeit der Vesper eingenommen, darauf legten ihr Vater und Ana großen Wert. Spätes Essen zeuge von losen Sitten, befanden beide.
»Du findest etwas anderes, liebste Ana. Niemand kann besser als du aus nichts ein Essen zaubern.«
Giuliana hatte ihren unschuldigsten Blick aufgesetzt, und der wirkte stets bei Ana. »Schmeichlerin. Dann gibt es aus den Resten von gestern eine Suppe.«
»Du bist die Beste, ich wusste es. Ich hole die Kaninchen.« Giuliana umarmte die gute Seele des Hauses Tasso und machte sich auf den Weg.
Wie hatte sie Anas Auftrag nur vergessen können? Weil nur Amadeo und sein verrücktes Spiel in ihren Gedanken gewesen waren. Solch ein Fehler durfte ihr nicht noch einmal passieren.
Nachdem sie alle Einkäufe auf dem Markt erledigt und bei Ana abgeliefert hatte, zog sie sich in ihre Kammer zurück. Amadeo und sein Kuss beherrschten immer noch ihr ganzes Denken und Fühlen. Sie hatte das Gefühl, immer noch seine Lippen auf ihren zu spüren und in einem winzigen Boot auf stürmischer See zu sitzen.
Sie zog ihre Mütze vom Kopf, drehte sie in den Händen. Dass sie Amadeo wiedergefunden hatte, unter all den Menschen in Venedig ausgerechnet diesen einen, ließ ihr Herz schneller hüpfen. Aber dass er sie nun in der Hand hatte … Sein Gesichtsausdruck hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er von ihr unbedingten Gehorsam erwartete, seine Lust zu befriedigen und seine Sklavin zu sein. Sie wusste durchaus über solche Dinge Bescheid, in Verona war man nicht so rückständig, wie die Venezianer vielleicht glaubten, und Giuliana war auch nicht mehr so unschuldig, wie Ana vielleicht annahm – hinter vorgehaltener Hand erzählten sich Mädchen so allerlei.
Sie wollte niemandem ausgeliefert sein, aber ihr fiel kein Weg ein, wie sie ihr schwankendes Boot den Wellen entreißen konnte. Giuliana trat an das Fenster ihrer Kammer, öffnete es, und kalte Luft strömte herein. Diesmal fuhr kein Karnevalszug auf dem schmalen Kanal vor dem Haus vorbei, dafür drei hochbeladene Lastkähne. Sie brachten Steine, Ziegel und Bauholz, auf einem von ihnen entdeckte Giuliana auch einige Marmorblöcke. Arm oder reich – in Venedig wurde immer gebaut.
Die Kähne glitten außer Sicht und damit auch die Ablenkung, die sie geboten hatten. In der Kammer wurde es außerdem empfindlich kalt, sie schloss das Fenster wieder. Zwei Tage noch, dann musste sie sich in die Hände eines fast unbekannten Mannes begeben. Er konnte gut küssen und war der unverschämt gut aussehende Sohn eines reichen Patriziers, mehr wusste sie nicht über ihn. Für Amadeo schien das Leben ein Spiel zu sein; für sie war es bitterer Ernst, ihre Rolle als Giulio in Venedig überzeugend zu spielen. Sie warf sich aufs Bett. Wenn ihr doch nur etwas einfallen wollte, wie sie ihr Geheimnis bewahren und gleichzeitig Amadeo ein Schnippchen schlagen konnte. Sollte sie alles machen, was er von ihr verlange, dabei aber kalt und unnahbar bleiben? Sie könnte es nicht; wenn er seine Lippen auf ihre presste, wäre es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Was könnte sie tun? Ihr fiel nichts ein.
In der Küche klapperte Ana laut mit den Töpfen. Es hallte durch das ganze Haus und war das Zeichen, dass in wenigen Augenblicken das Essen aufgetragen wurde. In diesem Moment begannen auch die Kirchenglocken zur Vesper zu läuten, die Arbeit des Tages endete.
Giuliana seufzte. Sie konnte sich nicht vorstellen, gleich hinunterzugehen und eine Suppe zu löffeln. Wenn sie aber nur schweigsam in ihrer Schale rührte oder gleich in ihrer Kammer blieb, forderte das drängende Fragen heraus. Ihrem Vater konnte sie alles Mögliche weismachen, Männer merkten nie, was Frauen wirklich dachten, aber Ana würde wieder auf den Grund ihrer Seele blicken und dort die Wahrheit erkennen. Sie erhob sich, schaute an sich herunter, ob ihre Burschenkleidung ordentlich saß und sauber war, und ging hinunter.
Sie hatte sich in einen schwarzen Mantel gehüllt, das Gesicht unter einer gleichfarbigen Halbmaske verborgen und ihre Haare sorgfältig unter einer Kappe versteckt. Aus der Truhe ihres Vaters hatte sie in einem unbeobachteten Moment einen Dolch entwendet und hielt ihn jetzt unter dem Mantel verborgen. In der freien Hand trug sie eine Laterne, deren Schein gerade einmal ein paar Schritte weit reichte. In den Gassen drängten sich Nachtschwärmer auf dem Weg zu diesem oder jenem Karnevalsvergnügen, alle waren fantasievoll maskiert, lachten und plauderten, rempelten Giuliana mehr als einmal an, und jedes Mal erschreckte sie sich.
Das Haus, dessen Adresse ihr Amadeo genannt hatte, lag in einer Gegend Cannareggios, in der sich eine Frau nachts nicht ohne Beschützer auf die Straße wagen sollte. An den Häusern hingen keine Laternen mehr, wie das in den besseren Vierteln der Fall war, es gab kein fröhliches Treiben wie auf der Piazza San Marco, dafür begegneten ihr dunkel gekleidete Gestalten, die ohne Laterne unterwegs waren. Einmal zog eine Hand an ihrem Mantel. Sie schlug um sich, und mit einem gedämpften Schmerzensschrei verschwand ein Schatten hinter ihr.
Giuliana drückte sich an die Hauswand und atmete keuchend ein und aus. In den beiden vergangenen Tagen hatte sie sich vorsichtig erkundigt, wo in Venedig das von Amadeo genannte Haus las. Die Antworten hatten nicht ermutigend geklungen, einer der Bettler auf den Stufen der Kirche San Apostoli hatte sich sogar rundweg geweigert, ihr eine Antwort zu geben, und hatte auch das dafür angebotene Geldstück nicht nehmen wollen.
»Das muss ein junger, ehrlicher Bursche wie du nicht wissen«, waren seine einzigen Worte gewesen.
Wenn sie sich nun umsah, musste sie ihm recht geben, und wäre Amadeos Drohung nicht gewesen, wäre sie nach Hause gerannt. Irgendwo zu ihrer Rechten gab es einen stinkenden Kanal, dessen Wellen leise an die Kais klatschten, und sie bog in eine Gasse ein, die an genau diesem Kanal endete. Sie hatte sich verlaufen. Giuliana kehrte um und ging zur Ecke zurück, unschlüssig schaute sie sich um. Im Dunkeln sah alles gleich aus. Was machte Amadeo, wenn sie das richtige Haus nicht fand?
Ihr blieb nichts anderes übrig, sie musste jemanden fragen. In Verona hatte sie keine Furcht gehabt, auf einen Fremden zuzugehen, wenn sie etwas wissen wollte; da war sie aber auch nicht nachts durch dunkle Gassen geschlichen, und man kannte sie als Il Sassos Tochter. Giuliana fasste sich ein Herz und sprach eine in einen schwarzen Mantel gehüllte Gestalt an.
»Perdono, ich suche ein Haus.« Sie hielt ihre Laterne höher, weil sie sehen wollte, mit wem sie sprach, und der Schein beleuchtete unter der Kapuze das faltige Gesicht einer Frau. Es war sehr weiß geschminkt, die Augen schwarz umrahmt, Lippen und Wangen gerötet.
»Ich habe keins.« Trotz des faltigen, stark geschminkten Gesichts war es die Stimme einer jungen Frau. »Aber ich habe eine Kammer, und für einen halben Dukaten können wir es uns dort die ganze Nacht gemütlich machen. Das ist ein Spezialpreis, weil du ein hübscher Junge bist.« Sie hielt die Hand auf.
Giuliana schüttelte den Kopf und rannte weiter, und als sie das nächste Mal wagte, jemanden anzusprechen, geriet sie an einen jungen Mann in ihrem Alter, dessen Augen vergnügt aufblitzten, als sie die Adresse nannte.
»Du siehst nicht aus, als ob du dir das leisten kannst.«
»Ich bin eingeladen.«
»Na dann.« Er beschrieb ihr den Weg und wollte nicht einmal den Vierteldukaten annehmen, den sie als Gegenleistung anbot.
Mit der Beschreibung fand sie das richtige Haus. Soweit sie in der Dunkelheit erkennen konnte, war es so hoch wie das, in dem sie wohnte, aber viel breiter, sie zählte sechs Fenster. Alle Fensterläden waren geschlossen, hinter einigen brannte Licht, es schien durch die Ritzen. Dahinter wartete also Amadeo. Unsicherheit befiel sie auf einmal, und sie zog die schon zum Türklopfer erhobene Hand wieder zurück. War erwartete sie hinter diesen Mauern? Ihre Laterne flackerte, die Kerze war fast heruntergebrannt. Im Dunkeln wollte sie keinesfalls vor der Tür stehen, schnell klopfte sie an.
Das war ja … da wurde ja der Teufel verrückt. Zum Glück war er ein gläubiger Mensch, sonst wären ihm noch andere Ausdrücke eingefallen, die sein Seelenheil gefährdeten; so pfiff Fabrizio nur lautlos durch die Zähne. Er stand auf der anderen Seite der Gasse in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern und wusste natürlich, was für ein Haus die stadtbekannte Dame Benedetta führte.
Vom Palazzo Bragadin aus war er dem jungen Amadeo bis hierher gefolgt. Alle jungen Männer aus reichem Hause, auch solche aus weniger reichem Hause und ältere, verkehrten bei der schönen Benedetta, solange sie nur jemanden fanden, der sie einführte. Es hatte ihn deshalb nicht überrascht, Amadeo hierher zu folgen. Seinen Buhlknaben zu sehen, das war eine Überraschung. Fabrizio rühmte sich, ihm sei nichts Menschliches fremd, deshalb wusste er auch, dass manche Männer diese widernatürliche Lust für Knaben hatten und dass es in Venedig Orte gab, wo sie diese Lust befriedigen konnten. Benedettas Haus gehörte eigentlich nicht dazu. Das interessierte seinen Herrn, alle Finger seiner rechten Hand würde er darauf verwetten.
Bisher hatte er Pietro Zianello nichts von dem Buhlknaben berichtet, er wollte erst noch mehr Informationen sammeln und dann einen richtigen Knaller landen. Pflichtschuldig hatte er ihn jeden Morgen getroffen und ihm Belanglosigkeiten über Amadeo Bragadins Alltag berichtet. Morgen wäre es anders. Er leckte sich die Lippen. Morgen würde sein Auftrag in eine neue Phase übergehen. Pfeifend machte Fabrizio sich auf den Weg in eine Taverne, um den Abend auf seine Weise zu genießen.
Giulianas Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie hinter der Tür Schritte hörte. Gleich würde sie vor Amadeo stehen.
Die Tür öffnete allerdings eine Frau, die obere Hälfte ihres Gesichts bedeckte eine goldene mit Federn und Edelsteinen besetzte Maske. Ihr goldgelbes Kleid ließ die Schultern frei und der Ansatz ihrer Brüste war zu sehen. Einige Strähnen ihres langen, schwarzen Haares ringelten sich lose auf ihrem Dekolleté, die übrigen Haare waren in Locken und Wellen auf ihrem Kopf festgesteckt. Bei Giulianas Anblick verzog sich der Mund der Frau zu einem freundlichen Lächeln, ihre Augen erreichte es nicht.
»Du bist bestimmt der Junge, auf den wir schon den ganzen Abend warten. Du kommst spät, mein Gast ist ungeduldig.«
»Dieses Haus ist nicht leicht zu finden. Ich habe mich verlaufen und musste nach dem Weg fragen.«
»Mach dir darüber keine Gedanken.« Die Frau lachte kurz auf. »Nenn mich Benedetta.«
»Ich heiße Giulio«, antwortete sie. »Benedetta ist doch nicht Euer richtiger Name?«
»Heißt du wirklich Giulio?« Benedetta zog sie ins Haus und verriegelte die Tür. »Auf Namen legen wir in diesem Haus keinen Wert. Jeder darf sein, was er will und heißen, wie er will.«
Sie führte Giuliana in den ersten Stock und dort in einen Raum, der die ganze Etage einnahm. Viele Kerzen und Feuer in beiden Kaminen erwärmten und erleuchteten ihn. Gegenüber der Tür, in der Nähe des einen Kamins, stand ein Bett, in dem eine Familie Platz gehabt hätte; vor dem anderen Kamin ein Tisch, der für drei Personen gedeckt war. Eine spanische Wand teilte eine Ecke des Raumes ab.
Amadeo entdeckte sie nicht, und gerade wollte sie sich fragen, in wessen Hände sie geraten war, als er hinter dem Wandschirm hervortrat.
Er trug wieder ein weites Hemd zu schwarzer Hose und schwarzen Stiefeln. Wie bei Benedetta war auch die obere Hälfte seines Gesichts von einer Maske bedeckt – natürlich in Schwarz. Sein Gang verriet ihn, geschmeidig und kraftvoll, auch wenn er das linke Bein immer noch leicht nachzog.
Giuliana wusste nicht, ob er erwartete, sie solle sich in seine Arme werfen, oder ihn begrüßen, wie Giulio dem Sohn seines Auftraggebers gegenübertrat. Sollte sie einen Knicks machen oder sich verneigen, ihm die Hand geben? Da sie sich nicht entscheiden konnte, tat sie nichts, sondern schaute zu Boden.
»Giulio.« Amadeo lümmelte sich aufs Bett, stützte den Kopf auf eine Hand und musterte sie von oben bis unten. »Bereit, deine Versprechen einzulösen?«
Sie nickte.
»Das habe ich von meinem Giulio nicht anders erwartet.«
Er schien sich an ihrer Verlegenheit zu weiden, und das forderte ihren Trotz heraus. Sie hob den Kopf und sah ihm gerade in die Augen. »Soll ich mich ausziehen?«
Amadeo lachte auf, und Benedetta fiel ein.
»Euer Junge redet nicht lange um eine Sache herum, das gefällt mir.«
Bei dem Wort Junge lachte Amadeo noch lauter, und auch Giuliana konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Ausziehen ist keine schlechte Idee, daraus lässt sich was machen. Aber zuerst wollen wir essen. Verehrte Benedetta, Eure Aufgabe.«
Die maskierte Frau eilte aus dem Raum, und Amadeo erhob sich, schlenderte zum Tisch. Zuerst legte er ein neues Holzscheit in den Kamin, bevor er sich ans Kopfende setzte. »Giulio – oder soll ich Giuliana sagen? Komm her zu mir.«
Sie stellte sich neben ihn, immer noch verlegen. Sie ahnte, dass er sich über sie lustig machte. Das ärgerte sie, und es ärgerte sie noch mehr, dass ihr nichts einfiel, wie sie es ihm mit gleicher Münze heimzahlen konnte.
Benedetta kehrte zurück, ihr folgte eine junge Magd, die ein großes Tablett trug. In Schüsseln standen darauf Oliven und eingelegtes Gemüse, scharf gewürzte Kuchen und kalte Fleischscheiben. Die junge Frau und Benedetta ordneten alles auf dem Tisch an, danach brachte die Magd noch Wein.
»Esst, trinkt, meine Freunde. Fühlt euch wie zu Hause.« Benedetta schenkte funkelnden Rotwein in drei Gläser, bevor sie sich auf einem der beiden freien Plätze niederließ und ihre Röcke um sich ordnete. Sie schob sich eine Olive in den Mund, nahm sich gleich darauf eine zweite und kreiste damit vor Amadeos Gesicht. Giuliana fiel auf, dass Benedetta unheimlich schlanke Hände hatte und die längsten Fingernägel, die sie bei einer Frau je gesehen hatte. Damit hatte sie bestimmt nie Hammer und Meißel gehalten oder einen Stein getragen. Amadeo schnappte die Olive aus ihren Fingern und kaute genüsslich.
»Setz dich zu uns, Giulio.«
Gehorsam, aber zögernd ließ sie sich auf dem letzten freien Stuhl nieder. Die Vorspeisen in den Schüsseln schmeckten bestimmt genauso gut, wie sie aussahen, und Giuliana lief das Wasser im Mund zusammen. Trotzdem griff sie nicht zu, sie war viel zu unsicher, was ihre Rolle in diesem Spiel sein sollte. Was hatte Amadeo vor, und hielt Benedetta sie wirklich für einen Jungen?