Blutseelen: Amalia

Er­schie­nen: 05/2010
Serie: Blut­see­len
Teil der Serie: 1

Genre: Fan­ta­sy Ro­mance
Zu­sätz­lich: Do­mi­nanz & Un­ter­wer­fung
Sei­ten­an­zahl: 168 (Über­grö­ße)

Hör­pro­be: Rein­hö­ren

Er­hält­lich als:
pa­per­back & ebook

ISBN:
Print: 978-3-93828-164-2
ebook: 978-3-86495-007-0

Preis:
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Blutseelen: Amalia


In­halts­an­ga­be

Als Ama­lia auf den ver­füh­re­ri­schen Au­re­li­us trifft, ahnt sie, dass ihre Zu­sam­men­kunft mehr als ein Zu­fall ist. In ero­ti­schen Träu­men hat sie Au­re­li­us be­reits ge­se­hen und seine Ge­gen­wart löst in ihr rät­sel­haf­te Er­in­ne­run­gen aus. Ama­lia fühlt sich, als sei sie für Au­re­li­us be­stimmt, gibt sich ihm ver­trau­ens­voll hin und lässt sich von ihm in die Tie­fen ihrer Lust ent­füh­ren.
Doch was als auf­re­gen­de Zeit mit einem ge­heim­nis­vol­len Mann be­ginnt, ver­wan­delt sich in einen Alb­traum, als Ama­lia er­ken­nen muss, dass Au­re­li­us und seine Freun­de Vam­pi­re sind, und sie selbst der Schlüs­sel zu einem düs­te­ren Ge­heim­nis ist, das vor Jahr­tau­sen­den im Nebel der Ge­schich­te ver­lo­ren ging ...

Band 1 der Blut­see­len-Tri­lo­gie.

Über die Au­to­rin

Sarah Schwartz (Jahr­gang 1978) wuchs in Frank­furt/M. auf, wo sie nach dem Ab­itur den Ma­gis­ter­stu­di­en­gang Ger­ma­nis­tik mit den Ne­ben­fä­chern Psy­cho­lo­gie und Kunst­ge­schich­te ab­sol­vier­te. Nach er­folg­rei­chem Ab­schluss des Stu­di­ums be­gann sie zu schrei­ben und ar­bei­te­te ne­ben­her vom Kom­mis­sio­nie­ren bis zum Do­zie­ren....

Wei­te­re Teile der Blut­see­len Serie

Le­se­pro­be

Szene 1

Straß­burg, April

Das Ge­läut des Müns­ters er­klang in der Ferne des Nach­mit­tags und er­goss sich in die engen Stra­ßen und Gas­sen. Ein Spiel aus Tönen, wie man es nir­gend­wo sonst in Eu­ro­pa hören konn­te. Ein Meis­ter­werk, das selbst das Herz des ver­irr­tes­ten Sün­ders an­rühr­te, doch Au­re­li­us warf nicht ein­mal einen Blick in die Rich­tung des win­zi­gen, ge­klapp­ten Fens­ters des Fach­werk­hau­ses. Ge­reizt zog der Vam­pir eine wei­te­re Schub­la­de des alten Schreib­tischs aus Nuss­baum­holz auf. Seine Ge­dan­ken waren ganz in seine Auf­ga­be ver­tieft.
Wo hatte die­ser Bas­tard seine Un­ter­la­gen ver­steckt?
Der Klan hatte schon lange eine Ver­mu­tung, was die Ver­gan­gen­heit von Pier­re...

...​de la Rougé be­traf, doch bis­her gab es kei­nen Be­weis. Nun war der alte Mann tot. Herz­ver­sa­gen. Sein Kör­per war ab­ge­holt, sein Ge­ruch lag noch immer wie eine schlech­te Aura aus Tod und Ver­we­sung über allem, was Au­re­li­us be­rühr­te.
Seine emp­find­li­chen Sinne wur­den be­lei­digt von der Pro­fa­ni­tät des Todes, von dem er­sti­cken­den, süß­li­chen Par­füm, das zu viele Er­in­ne­run­gen weck­te, in einem Wesen wie ihm, das im Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg ge­lebt hatte und ge­stor­ben war. Aber damit woll­te er sich jetzt nicht be­fas­sen. Er hatte einen Auf­trag. Die Zeit war knapp. Schon bald wür­den die neuen Be­sit­zer der win­zi­gen Woh­nung auf­tau­chen und das Haus in Be­schlag neh­men. In we­ni­gen Mi­nu­ten konn­te der Las­ter kom­men, der die alten Möbel und ver­gilb­ten Bil­der samt ihrer Staub­schicht ab­ho­len würde, um Raum für Neues zu schaf­fen.
Zwi­schen Tra­di­ti­on und eu­ro­päi­scher Zu­kunft auf der Gran­de Île zu leben, war der Traum vie­ler Straß­bur­ger, und sie waren be­reit, ein Ver­mö­gen dafür aus­zu­ge­ben.
Au­re­li­us stieß die Schub­la­de hef­tig zu. Er schloss die Augen. Lang­sam at­me­te er ein und aus. Ob­wohl er nicht wie ein Mensch atmen muss­te, be­ru­hig­te ihn die­ser ver­trau­te Pro­zess. Seine Ge­dan­ken sam­mel­ten sich, wur­den zu einem Man­tra, das er dach­te, wie er es oft in schwie­ri­gen Si­tua­tio­nen ge­dacht hatte.
Nein. Ich ver­sa­ge nicht. Ich habe nie­mals ver­sagt.
Als Gra­cia ihm er­zählt hatte, was Rene plan­te, war ihm be­wusst ge­wor­den, was er alles zu ver­lie­ren hatte. Die Exis­tenz sei­nes Klans stand auf dem Spiel. Er war ge­schickt wor­den, weil er der Beste war. Wenn er die Do­ku­men­te nicht fand, fand sie nie­mand.
Mit ge­schlos­se­nen Augen lausch­te er, dräng­te das Ge­läut der gro­ßen und klei­nen Glo­cken des Müns­ters bei­sei­te. Unten im Haus koch­te eine Frau ein spä­tes Mit­tag­es­sen. Sie summ­te leise, wäh­rend Holz gegen Me­tall schlug – sie rühr­te in einem Topf. Au­re­li­us roch den schar­fen Duft von Zwie­bel­sup­pe, der über dem Ge­ruch nach Tod und Ver­we­sung lag. Aber da war noch mehr. Eine ganze Welt aus Ge­rü­chen, die dar­auf war­te­te, von ihm durch­drun­gen zu wer­den. Auch Pa­pier hatte einen Ge­ruch. Es roch scharf und säu­er­lich. In die­sem Schreib­tisch gab es ganz ver­schie­de­ne Pa­pier­sor­ten, die auf un­ter­schied­li­che Art und Weise be­han­delt wor­den waren. Jede Her­stel­lung hin­ter­ließ einen an­de­ren Ge­ruch, einer Prä­gung gleich, und hin­ter jeder Her­stel­lungs­art er­kann­te er das Ma­te­ri­al: Zell­stoff, Holz­stoff, Alt­pa­pier, Fich­te, Tanne, Kie­fer.
„Kie­fer ...“, flüs­ter­te er, und riss mit einer flie­ßen­den Be­we­gung die obers­te Schub­la­de auf. Sie war leer. Aber der Ge­ruch war un­ver­wech­sel­bar. Schwach drang er unter dem Nuss­baum­holz her­vor, ver­hei­ßungs­voll.
Mit dem Fin­ger fuhr er über den Boden der Schub­la­de. Mü­he­los drang sein mes­ser­schar­fer Dau­men­na­gel in das Holz ein und ein haar­fei­ner Riss ent­stand. Ihm stand nicht der Sinn da­nach, lange nach einem ge­hei­men Me­cha­nis­mus zu su­chen. Viel­leicht gab es gar kei­nen. Das Holz konn­te als dop­pel­ter Boden auf­ein­an­der ge­leimt wor­den sein, um das Ver­steck si­cher zu ma­chen. Er igno­rier­te die win­zi­gen Holz­split­ter, die sich in seine Hand gru­ben. Seine Haut er­kann­te sie in­ner­halb von Se­kun­den­bruch­tei­len als Fremd­kör­per und stieß sie ohne sein Zutun ab.
Tri­um­phie­rend riss er den dop­pel­ten Boden end­gül­tig aus­ein­an­der. Etwas weiß Schim­mern­des lag vor ihm. Fie­ber­haf­te Er­re­gung poch­te in sei­nen Adern. Er riss die Pa­pie­re an sich, die in einer an zwei Sei­ten of­fe­nen Plas­tik­fo­lie auf ihre Ent­de­ckung ge­war­tet hat­ten. Mit einer ein­zi­gen Be­we­gung streif­te er die Folie ab und ließ sie acht­los auf den brau­nen Tep­pich fal­len.
Has­tig blät­ter­te er die Do­ku­men­te durch, er­fass­te Seite um Seite den kom­plet­ten In­halt. Namen und Daten be­stä­tig­ten ihm, das Ge­wünsch­te ge­fun­den zu haben. Sein Herz­schlag be­schleu­nig­te sich. Als er die Pa­pie­re ge­le­sen hatte, steck­te er sie zu­rück in die Folie, trat an das ge­klapp­te Fens­ter und sah zur Ill hin­un­ter, deren Arme die Insel der Alt­stadt schüt­zend um­flos­sen.
Er hatte das Ge­heim­nis ent­deckt.
Er­neut at­me­te er tief ein und aus. Die kühle Früh­jahrs­luft ver­trieb den er­sti­cken­den To­des­ge­ruch aus sei­nen Lun­gen.
Er griff zu dem Handy an sei­ner Seite und be­rühr­te die Ober­flä­che. Es dau­er­te nicht lange, bis er ge­wählt hatte, und noch kür­zer, bis Gra­cia abhob.
„Pier­re hatte einen Sohn“, sagte er mit fes­ter Stim­me, als er Gra­ci­as Ge­gen­wart am an­de­ren Ende der Lei­tung fühl­te.
Gra­cia zö­ger­te. „Dann hat er viel­leicht wei­te­re Nach­fah­ren. Du weißt, was das heißt?“
„Es könn­te ein See­len­blut dar­un­ter sein. Eine Wis­sen­de.“
„Komm mit den Un­ter­la­gen nach Frank­furt zu­rück. Wir haben wenig Zeit.“
„Ich komme.“ Au­re­li­us legte auf. Er öff­ne­te das Fens­ter ganz, war­te­te, bis nie­mand in seine Rich­tung sah, und schwang sich aus dem Rah­men hin­un­ter auf die drei Meter tie­fe­re Stra­ße. Die Be­we­gung war so schnell, dass ein Mensch ihr nicht fol­gen konn­te. Auf der Stra­ße zog er sich mit einer Hand den schwar­zen Man­tel glatt und strich sich durch die lan­gen, gold­brau­nen Haare. Ziel­stre­big ging er in Rich­tung Müns­ter. Ob­wohl er es eilig hatte, woll­te er dem im­po­san­ten Bau mit sei­nen ein­drucks­vol­len Glas­fens­tern einen Be­such ab­stat­ten. Er wuss­te selbst nicht genau, warum er die­sem Drang nicht wi­der­ste­hen konn­te. Viel­leicht woll­te er ein Grab­mal Got­tes be­wun­dern, und in Er­in­ne­run­gen ein­tau­chen. Noch vor zwei Jahr­hun­der­ten hatte er in Frank­reich ge­lebt, auf dem An­we­sen sei­ner Vor­fah­ren in der Nähe von Montbéliard.
„Du bist ein sen­ti­men­ta­ler Schwach­kopf“, schimpf­te er leise mit sich. Es gab Wich­ti­ge­res zu tun, als ein altes Bau­werk zu be­wun­dern. Die Ge­gen­wart rief nach ihm. Seine Hände um­schlos­sen die Pa­pie­re.
Seine Stim­me war so leise wie der Wind­hauch zwi­schen den Häu­sern. „Wenn es ein See­len­blut gibt, werde ich es fin­den und es zu ihr brin­gen. Sie wird das Ge­heim­nis aus dem Nebel der Zei­ten heben.“
Au­re­li­us wuss­te, dass das nicht ge­nü­gen würde. Er würde das tun müs­sen, was er hass­te, und was er seit Jahr­zehn­ten ver­mied. So­bald sein Klan die be­nö­tig­ten In­for­ma­tio­nen hatte, würde er töten müs­sen. Das Ge­heim­nis war nur dann si­cher, wenn seine Quel­le aus­ge­löscht wurde. Viel­leicht war das der wahre Grund, warum er wie ein Sün­der in die Kir­che lief, auch wenn er sei­nen Glau­ben schon vor Jahr­hun­der­ten ver­lo­ren hatte. Er hoff­te auf eine Ab­so­lu­ti­on, die ihm nie­mand er­tei­len konn­te.

Szene 2

„Sieh mich an“, sagte er leise. Seine rech­te Hand lag wei­ter auf ihrer Brust. Die linke drück­te sich plötz­lich auf ihre Hose. Durch den dün­nen Lack­stoff fühl­te sie die Be­rüh­rung über­deut­lich. Seine Fin­ger mas­sier­ten ihren Scham­hü­gel. Ihr In­ne­res zog sich lust­voll zu­sam­men. Sie riss die Augen auf.
Was tat sie hier ei­gent­lich. Die Stim­me der Ver­nunft woll­te sich in den Vor­der­grund drän­gen, doch sie un­ter­drück­te sie. Sie woll­te nicht nach­den­ken, son­dern nur den Au­gen­blick ge­nie­ßen.
Sein Blick hielt ihren. Ama­lia konn­te weder forts­e­hen noch blin­zeln. Als ob er einen Bann auf sie aus­üben würde. In sei­nen Pu­pil­len lagen die Bil­der aus ihren Träu­men. Frank­reich. Das An­we­sen. Schnee­flo­cken und Wölfe.
Wölfe?
Sie ver­stand ihre Ge­dan­ken nicht. Er­neut be­schlich sie Angst und sie ver­steif­te sich. Nach dem Tod ihres Va­ters hatte sich ihre Mut­ter eine Zeit lang in Traum­wel­ten ver­irrt. Sie war dis­so­zia­tiv ge­we­sen, hatte daran ge­glaubt, dass der Geist ihres ver­stor­be­nen Man­nes mit ihr sprach und ihr Vor­wür­fe mach­te. Ver­lor sie den Ver­stand? Aber warum soll­te sie den Ver­stand ver­lie­ren, es gab nichts, was sie be­droh­te.
„Ent­spann dich“, sein Flüs­tern ver­trieb alle Zwei­fel. Seine Augen gaben sei­nem Ge­sicht einen war­men Aus­druck. Sie fühl­te Ge­bor­gen­heit, die sie umgab. Das Bild eines dunk­len En­gels stieg vor ihr auf. Sie konn­te sich Au­re­li­us gut mit einem Flam­men­schwert vor­stel­len. Sein ath­le­ti­scher Kör­per war der eines Kämp­fers.
Sie stöhn­te auf, als seine Hand Knopf und Reiß­ver­schluss öff­ne­te und in ihre Hose glitt. Ihre Kli­to­ris pul­sier­te unter sei­nen Fin­gern. Ziel­ge­nau traf er sie und drück­te zärt­lich zu. Als sie glaub­te, es nicht mehr aus­hal­ten zu kön­nen, zog er seine Hand zu­rück. Seine lan­gen Haare kit­zel­ten ihren Hals. Un­ent­wegt blick­te sie in diese dun­kel­brau­nen Augen. Sein Blick war spöt­tisch und zu­gleich fas­zi­niert, als würde er vor sich ein Wun­der sehen. Sie hob den Kopf und kam ihm ent­ge­gen, um end­lich seine Lip­pen schme­cken zu kön­nen. Das Ge­fühl, sich ein Leben lang nach die­sem einen, nach sei­nem Kuss, ge­sehnt zu haben, war über­wäl­ti­gend.
Sein Ge­sicht nä­her­te sich ihrem. Un­be­wusst schloss sie die Augen und fühl­te eine Er­leich­te­rung, als habe er sie frei­ge­las­sen aus sei­nem Bann. Warm und fest lagen seine Lip­pen auf ihrem Kinn. Er küss­te sie zärt­lich, wäh­rend seine Hände noch immer über ihren Kör­per glit­ten, als könne er nicht genug von ihr be­kom­men. Seine Lip­pen um­kreis­ten ihre, gaben ihr klei­ne Küsse neben den ge­öff­ne­ten Mund. Sie wagte nicht, sich ein­fach zu neh­men, was sie woll­te. Er­regt war­te­te sie auf ihn. Auf seine Zunge, die end­lich ihren Weg zu ihrer Zunge fand. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und beug­te sich vor. Sein Duft ließ sie schwin­deln. Sie tauch­ten in­ein­an­der. Seine Zun­gen­spit­ze be­rühr­te ihre. Au­gen­blick­lich spür­te sie, wie etwas mit ihr ge­schah. Sie keuch­te vor Schmerz, als sich neue Bil­der auf­dräng­ten: eine Frau, weiß­blond, mit den käl­tes­ten blau­en Augen, die sie je ge­se­hen hatte. Sie hatte lange Zähne, das Ge­biss eines Raub­tiers. Blut be­deck­te das ma­kel­lo­se, weiße Ge­sicht.
„Nie­mals“, flüs­ter­te eine kalte Stim­me in ihrer Er­in­ne­rung. „Höre auf meine Worte: Nie­mals sollst du dich er­in­nern! Eher wirst du ster­ben!“
Ama­lia schreck­te zu­rück. Sie fühl­te in­ner­lich, dass sie diese Frau kann­te. Dass die Frem­de Teil von einem vor­he­ri­gen Leben war. Es stimm­te alles. Sie war in Frank­reich ge­we­sen, als Skla­vin von Au­re­li­us oder zu­min­dest einem sei­ner Vor­fah­ren. Sie kann­te ihre Ge­schich­te und spür­te zu­gleich, dass sie gar nichts wuss­te. Sie war eine Nuss­scha­le, die auf dem Meer in einem Sturm hin- und her­ge­ris­sen wurde. Ihr Magen brann­te, ihr Herz schlug hart und schmerz­haft in ihrer Brust. Ihr Kopf schien in Flam­men zu ste­hen.
„Nein!“, keuch­te sie auf. Sie stieß den ver­wirrt drein­bli­cken­den Au­re­li­us zu­rück, sprang auf und lief blind­lings davon. Ihre Angst war ein schwar­zer Man­tel, der sie kalt und ver­nich­tend umgab. Sie rann­te, als sei der Teu­fel hin­ter ihr her.
„Ama­lia!“
Er rief nach ihr. Doch sie hetz­te vor­wärts, schlug sich zwi­schen zwei Bü­schen hin­durch. Zwei­ge peitsch­ten in ihr Ge­sicht und hin­ter­lie­ßen bren­nen­de Strie­men. Das Ge­fühl in ihrer Brust droh­te, sie zu zer­rei­ßen.
Nein, das war nicht mög­lich. Es gab keine vor­he­ri­gen Leben!
Ihr Ver­stand kämpf­te ver­zwei­felt, aber das Ge­fühl war über­mäch­tig. Panik über­fiel sie. Sie muss­te weg. Weg von Au­re­li­us. Weg von sei­nen Freun­den. Sie waren Teu­fel! Blut­trin­ker! Dä­mo­nen­brut, al­le­samt!
Sie spür­te, wie ihr lose ge­schnür­tes Kor­sett immer tie­fer rutsch­te, doch in ihrem Zu­stand war ihr das gleich, sie woll­te nur fort. Auch ihre Hose ver­hak­te sich an einem Strauch und riss. Sie rann­te wei­ter. Fort von ihm. So schnell sie ihre Beine tru­gen. Wei­ter und wei­ter, ohne in­ne­zu­hal­ten. Bis sich die Welt plötz­lich über­schlug. Erst war etwas an ihrem Fuß – eine Hand, die sie pack­te, oder eher eine Wur­zel – dann stürz­te sie einen Ab­hang hinab. Him­mel und Gras wech­sel­ten ein­an­der. Sie über­schlug sich mehr­mals, ehe sie mit einem er­stick­ten Schrei auf dem Boden eines Gra­bens lan­de­te. Sie hörte das Plät­schern von Was­ser. Der Him­mel über ihr ver­dun­kel­te sich. Sie spür­te, wie ihr Be­wusst­sein schwand. Stöh­nend griff sie sich an den Kopf. Dort war etwas Feuch­tes. Sie ver­such­te, einen kla­ren Ge­dan­ken zu fas­sen, doch die Ohn­macht riss sie un­auf­halt­sam mit sich.

Der Gra­ben samt dem Park war auf ein­mal ver­schwun­den. Sie fand sich in einem Wald wie­der. Mit­ten im Schnee. Kälte umgab sie. Ihre Beine schmerz­ten und sie fror er­bärm­lich. Fah­les Licht fiel zwi­schen den Baum­kro­nen hin­durch. Ir­gend­wo jaul­te ein Wolf.
Es war die­ses Jau­len, das sie zum Auf­ste­hen brach­te. Hus­tend kämpf­te sie sich auf die Füße. Der Wolf war ganz in ihrer Nähe und der Win­ter war hart. Mehr­fach hatte sie in Paris Be­rich­te über Wölfe ge­hört, die nicht nur Vieh ris­sen, son­dern auch Men­schen an­grif­fen. Sie hatte ge­hofft, dass es nur die üb­li­chen Klatsch­ge­schich­ten der alten Frau­en in ihrer Gasse waren. Über­trei­bun­gen. Doch in die­sem Au­gen­blick woll­te sie sich nicht auf Ver­mu­tun­gen und Hoff­nun­gen ver­las­sen. Sie muss­te wei­ter. Seit drei Tagen war sie un­ter­wegs und hatte kaum ge­schla­fen. Ihr Kör­per war kraft­los, doch der Über­le­bens­wil­le zwang sie vor­wärts. Sie sah sich in dem wu­chern­den Wald­stück um. Schnee­be­deck­te Tan­nen und kahle Laub­bäu­me um­ga­ben sie wie stum­me Wäch­ter. Es war so still, wie es im Her­zen von Paris nie­mals war. Selbst die Vögel schwie­gen. Die ein­zi­gen Ge­räu­sche in die­ser wei­ßen Win­ter­pracht waren ihr Atem, der damp­fend aus ihr wich, und das leise Rie­seln des Schnees, der sich auf Äste und Eis­krus­ten setz­te.
Sie ver­such­te, nicht dar­über nach­zu­den­ken, dass sie ihre Füße kaum mehr spür­te. Es war nicht ihr ers­ter Win­ter in der Wild­nis. Aber der erste Win­ter ohne Hoff­nung.
Er­neut durch­brach das Jau­len eines Wol­fes die Stil­le. Die­ses Mal klang es näher.
„Maria, steh mir bei“, flüs­ter­te sie in die Kälte. Der Wolf hatte sie ge­wit­tert. Sie sah sich im Gehen die um­ste­hen­den Bäume an. Dort vorne. Da stand eine Kie­fer mit tief her­ab­hän­gen­den Ästen. Das Jau­len er­klang er­schre­ckend laut. Der Wolf hatte sie fast er­reicht.
Sie lief immer schnel­ler, hetz­te wie ein ge­jag­tes Reh auf den Baum zu.
Im Lau­fen sah sie den Wolf, der neben ihr zwi­schen Bü­schen und Bäu­men her­vor­trat, laut­los und an­mu­tig eine Pfote vor die an­de­re set­zend. Das grau­schwar­ze Fell war ge­sträubt, das Maul ge­öff­net. Zwi­schen den Lef­zen rag­ten schar­fe Zähne her­vor. Das Tier sah sich um, als müsse es sich ori­en­tie­ren.
Sie zog sich den Baum hin­auf. Der Wolf ent­deck­te sie und sprang los. Leicht­fü­ßig er­reich­te er ihren Flucht­baum und warf sich hin­auf. Sie schrie auf, als seine Zähne dicht unter ihrem Stie­fel zu­schnapp­ten. Pa­nisch floh sie höher. Erst, nach­dem sie gut drei Meter hin­auf­ge­klet­tert war, blick­te sie zu­rück.
Es war der größ­te Wolf, den sie je ge­se­hen hatte. In sei­nen Augen lagen Bos­heit und Ver­stand. Etwas an sei­nem Blick er­schien ihr lau­ernd. Der Wolf setz­te sich in den Schnee und sah zu ihr her­auf. Das war nicht das Ver­hal­ten, das sie von einem wil­den Wolf kann­te. Sie hatte er­war­tet, dass er auf­ge­regt am Baum hoch­sprin­gen, oder un­ge­dul­dig auf und ab gehen würde. Au­ßer­dem war das Tier al­lein. So sehr sie auch Aus­schau hielt, sie konn­te kein Rudel ent­de­cken. Trotz­dem fühl­te sie keine Er­leich­te­rung. Der Wolf unter dem Baum sah stark genug aus, sie zu zer­rei­ßen. Er wog be­stimmt mehr als sie, und wenn sich seine Zähne erst in ihr Fleisch senk­ten, war es zu Ende. Sie spür­te Trä­nen über ihre ge­fro­re­nen Wim­pern lau­fen.
„Warum?“, schluchz­te sie leise. Hatte Gott seine schüt­zen­de Hand end­gül­tig von ihr fort­ge­nom­men? Muss­te sie der Ver­damm­nis an­heim­fal­len? Sie hatte sich immer be­müht, ein gutes Mäd­chen zu sein und eine gute Frau. Dass ihr Mann früh ge­stor­ben war, war nicht ihre Schuld, und für die Taten ihrer Mut­ter trug sie keine Ver­ant­wor­tung. Die Rich­ter des Kö­nigs sahen das an­ders, aber Gott kann­te die Wahr­heit. Warum stand er ihr nicht bei?
Sie fühl­te, wie ent­kräf­tet sie war. Die Augen droh­ten ihr immer wie­der zu­zu­fal­len, selbst wenn sie wein­te. Bald würde sie hin­un­ter­stür­zen und der Wolf bekam sein Fest­mahl.
Schnee­flo­cken setz­ten sich auf sie. Ein Lei­chen­tuch. Sie war schon tot. Es gab keine Hoff­nung mehr. Sie sah, wie die Sonne hin­ter dem Wald un­ter­ging. Eine Nacht auf dem Baum würde sie nicht le­bend über­ste­hen. Ent­we­der sie er­fror, oder sie wurde ge­fres­sen. Wie­der wein­te sie. Krämp­fe schüt­tel­ten ihren Kör­per. Sie schrie um Hilfe. Schrie nach Gott, fluch­te und fleh­te. Aber sie wuss­te, dass da drau­ßen nie­mand war. Nur der Wolf, der sie mit sei­nen queck­sil­ber­nen Augen ansah, als be­lus­tig­ten ihn ihre Wut­an­fäl­le und ihre Trä­nen.
Wach blei­ben ... am Leben blei­ben ... wach ... blei­ben ... am ...
Die Ge­dan­ken lös­ten sich auf in Dun­kel­heit.
Sie muss­te ein­ge­schla­fen und vom Baum ge­stürzt sein, denn das, was sie weck­te, war ein har­ter Auf­prall im Schnee. Sie schrie. Neben ihr sah sie den Wolf, der her­um­schnell­te. Ver­zwei­felt ver­such­te sie, auf­zu­ste­hen, doch ihre Beine ge­horch­ten ihr nicht. Der Wolf wog min­des­tens so viel wie ein er­wach­se­ner Mann. Sie sah die brei­ten Pfo­ten dicht vor ihrem Ge­sicht. Das Maul öff­ne­te sich. Ein Ge­ruch nach Aas und Ver­we­sung streif­te sie; eine feuch­te Wärme, die auf der er­fro­re­nen Haut schmerz­te. Sie be­te­te zu Gott, als der Wolf sich auf sie stürz­te – und die­ses Mal wurde sie er­hört.
Der Schuss war so laut, dass sie zu­sam­men­fuhr, als habe man sie ge­schla­gen. Der Wolf jaul­te und wich zu­rück. Ein zwei­ter Schuss folg­te. Dann ein drit­ter. Das Ge­wehr klang wie eines der kö­nig­li­chen Armee. So hatte es auch in Paris ge­klun­gen. Ama­lia schluck­te. Waren sie ihr so weit ge­folgt? War das nun das Ende? Würde man sie zu­rück nach Paris schlep­pen und sie so lange der hoch­not­pein­li­chen Be­fra­gung un­ter­zie­hen, bis sie Dinge ge­stand, die sie nicht getan hatte?
Sie ver­such­te, da­von­zu­krie­chen, als ein Mann in einem lan­gen schwar­zen Man­tel auf sie zu kam.
„Bitte“, keuch­te sie. „Bitte, Herr, lasst mich gehen, ich bin un­schul­dig!“
Der Mann hob sie vom kal­ten Boden auf, als wöge sie nichts. Er trug sie zu sei­nem schnau­ben­den Pferd. Sie ver­such­te, noch etwas zu sagen, aber die Er­schöp­fung war zu groß. Ihr wurde schwarz vor Augen.
Erst Stun­den spä­ter kam sie in einer Jagd­hüt­te wie­der zu sich. Ein Feuer brann­te und sie war in zahl­lo­se De­cken ge­hüllt. Trotz­dem war ihr eis­kalt. Ihr ge­gen­über saß der Frem­de auf meh­re­ren Wolfs­fel­len auf dem stei­ner­nen Boden. Sie er­kann­te den toten Rie­sen­wolf, der ein Stück ab­seits lag.
„Wo ...“ Ihre Stim­me brach, sie hatte Hals­schmer­zen.
Die gold­grü­nen Augen des rie­si­gen Man­nes blick­ten auf sie herab. Weder gütig, noch ver­ur­tei­lend. Er stand auf und brach­te ihr eine Fla­sche, die er an ihren Mund setz­te.
„Trink das und stell keine Fra­gen.“
Sie tat, was man ihr be­fahl, so, wie sie es immer tat. Die Flüs­sig­keit rann heiß ihre Kehle hinab. Es brann­te wie Feuer. Sie hus­te­te, spür­te, wie ihr warm wurde, und ihre Hals­schmer­zen au­gen­blick­lich nach­lie­ßen. Sie sah den Mann dank­bar an.
Er war vor­nehm ge­klei­det. Ver­mut­lich war er ade­lig. Die gold­brau­nen Haare trug er zu einem Zopf ge­floch­ten. Al­lein sein Hemd sah so teuer aus, dass sie einen Monat von dem Geld hätte leben kön­nen.
„Danke, Herr.“
Er schau­te sie an. Mus­ter­te sie ab­schät­zend. „Was hast du hier drau­ßen in mei­nem Wald zu su­chen?“
Sie senk­te den Blick und schwieg. Er pack­te ihr Kinn und hob ihren Kopf. Sie muss­te in seine Augen sehen. In diese gold­grü­nen Augen, die nicht von die­ser Welt waren.
„Ich bin ein un­ge­dul­di­ger Mann und ich mag keine Lügen. Rede schnell und wahr, oder du wirst es be­reu­en.“
Sie schluck­te. „Ich ... ich bin da­von­ge­lau­fen, Herr. Aus Paris. Meine Mut­ter hat ihren zwei­ten Mann mit Gift um­ge­bracht, und da mein Mann auch in die­sem Jahre ver­starb, glaubt man, ich sei mit mei­ner Mut­ter ver­bün­det und habe Schuld an sei­nem Ab­le­ben. Aber ... ich bin un­schul­dig, Herr. Mein Mann hatte eine Lun­gen­ent­zün­dung. Gott helfe mir, ich woll­te ihm nie Böses.“
Er ließ sie los. „Un­schuld. Was ist das schon?“
Sie schwie­gen. In ihr wurde die Angst immer grö­ßer. Sie zit­ter­te. „Wer­det ... wer­det Ihr mich aus­lie­fern, Herr?“
Sein Blick glitt er­neut über sie. Er schien nach­zu­den­ken. „Was bie­test du mir, wenn ich es nicht tue?“
Sie schluck­te. „Ich bin flei­ßig und ich kann ko­chen. Ich ar­bei­te gut und schnell. Wenn Ihr mich mit­nehmt, kann ich Euch die­nen.“
Er riss die De­cken von ihrem Kör­per. Erst jetzt be­merk­te sie, dass sie nackt war. Vor Scham senk­te sie den Blick. Er hatte ihr die Klei­der ge­nom­men.
„Ich bin nicht an dei­nen Koch­küns­ten in­ter­es­siert.“ Er hob eine ihrer schwar­zen Haar­sträh­nen zwi­schen zwei Fin­gern in die Höhe. „Aber viel­leicht hast du ja noch mehr zu bie­ten?“
„Ich ...“ Sie such­te nach Wor­ten. Es hatte nie viel Geld in ihrer Fa­mi­lie ge­ge­ben, doch so tief war sie nie ge­fal­len. Bis zu die­ser Stun­de hatte sie ihren Kör­per nicht ver­kau­fen müs­sen. Ihr fiel keine Ent­geg­nung ein. Atem­los sah sie in sein En­gels­ge­sicht. Er hatte sie ge­ret­tet und er war schön. Viel schö­ner, als der alte Händ­ler, mit dem ihre Mut­ter sie vor drei Jah­ren ver­hei­ra­tet hatte, um selbst mehr Geld zu haben.
Aber die­ser Mann hatte etwas Böses an sich. Etwas an ihm war der Dun­kel­heit ver­fal­len. Sie sah es an sei­nen Augen. So schön sie auch waren, in sei­nem Blick lau­er­ten Ab­grün­de.
„Es ist deine Ent­schei­dung“, sagte er gön­ner­haft. „Ent­we­der gehst du aus die­ser Hütte und ver­schwin­dest von mei­nem Grund, oder du tust uns bei­den einen Ge­fal­len und be­dankst dich für deine Ret­tung, wie es sich ge­hört.“
„Wenn ... wenn ich gehe ... gebt Ihr mir dann meine Klei­der wie­der?“
Er schüt­tel­te lä­chelnd den Kopf.
„Ihr lasst mir keine Wahl.“
„Es gibt immer eine Wahl. Wie heißt du?“
„Marie.“
Er ver­zog das Ge­sicht. „Ein­falls­lo­se El­tern. Ver­mut­lich bist du ganz furcht­bar got­tes­gläu­big?“
Sie nick­te hef­tig.
„Ver­giss Gott und er­wäh­ne sei­nen Namen nicht in mei­ner Ge­gen­wart. Wenn ich bei dir bin, bin ich dein Herr. Du wirst mir die­nen, und mir all die Dinge geben, die Gott oh­ne­hin nicht an dir in­ter­es­sie­ren.“
Sie schwieg. Was soll­te sie tun? Es schien kein Ent­kom­men zu geben, keine Flucht­mög­lich­keit. Ent­we­der gab sie ihm nach oder sie starb. Ob­wohl sie nicht ster­ben woll­te, zö­ger­te sie. Sie hatte das Ge­fühl, der Teu­fel selbst würde vor ihr ste­hen, um sie zu prü­fen. Aber selbst wenn es so war – sie war nur ein Mensch. Men­schen waren fehl­bar.
Er sah sie auf­for­dernd an. „Wor­auf war­test du? Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.“ Er löste sei­nen Gür­tel und ließ die Hose ein Stück sin­ken. Nack­te Haut kam zum Vor­schein. Sie war weiß wie Ala­bas­ter und wirk­te eben­so fest. Seine Hand legte sich auf ihren Na­cken. Er zog ihren Kopf in sei­nen Schoß.
Marie kann­te das von ihrem ver­stor­be­nen Mann. Er hatte sie nicht oft ge­wollt, weil er fett und faul war, und jeg­li­che Art der An­stren­gung hass­te. Aber hin und wie­der war er zu ihr ge­kom­men.
Sie sah ihn an, und wuss­te, dass sie leben woll­te. Wenn das der ein­zi­ge Weg war, dem Tod zu ent­kom­men, dann würde sie ihn gehen.
Er­ge­ben glitt sie aus ihrer sit­zen­den Po­si­ti­on auf die Knie, um­schloss sein küh­les Glied mit ihren Lip­pen und be­gann, sich zu be­we­gen.